ask – art & science krems: Frau Abbasi, Herr Goller, wir wollen in diesem Gespräch erkunden, wie Kunst und Wissenschaft die gegenwärtigen Dauerkrisen wahrnehmen und reflektieren. Doch zunächst interessiert uns: Wie gehen Sie selbst mit der Weltlage um?
Sara Abbasi: Natürlich betrifft mich die Weltlage, aber die aktuelle Untergangsstimmung ist sehr eurozentristisch. Je nachdem, wo auf der Welt man lebt, war das Leben immer krisenhaft und begann schon mit Revolution, Krieg und Flucht, wie beispielsweise in meinem Fall. Aber Corona hat klargemacht, dass auch unser Alltag in Mitteleuropa von Krisen betroffen sein kann. Seitdem ist die Taktzahl gestiegen, und multiple Krisen rücken näher.
Jürgen Goller: In Mitteleuropa erwachen wir langsam aus einem Dornröschenschlaf. Wir haben uns ab den 1960-ern der Illusion hingegeben, dass es nur noch aufwärts gehe. Ich fühle mich sehr privilegiert, mir hat es an nichts gefehlt. Viele Krisen betreffen mich auch heute nicht persönlich. Aber ich sehe hin und will mir nichts schönreden. Corona, die Zerstörung der Natur, Kriege, die weltweiten Entwicklungen in Richtung Faschismus – jetzt in Farbe – fließen auch in meinen Beruf ein, weil ich viel mit den Studierenden darüber rede. Es kann der Punkt kommen, wo Menschen alles kaputt gemacht haben werden.

ask – art & science krems: Donaufestival-Leiter Thomas Edlinger zeichnet ein Bild der Gegenwart, „in der Paranoia, Misstrauen, Empörungslust und Desinformationsspiralen im Zeichen des Need for Chaos blühen“. In diesen Zuständen agierten „Künstler*innen selbst oft mit Irritationen“. Welche Irritationen wird es beim Donaufestival geben, Sara Abbasi?
Abbasi: Ich bin mitverantwortlich für die Performances, und diese haben im besten Sinne immer etwas mit Irritation zu tun. Nicht als Provokation, sondern weil Künstler*innen vom Menschsein betroffen sind, wie alle anderen. Obwohl die Vorbereitung lange davor beginnt, interagiert unser Programm mit der unmittelbaren Gegenwart, in der wir fast Herbert Kickl als Kanzler bekommen hätten, das zarte Pflänzchen Demokratie gefährdet ist, wir täglich mit Desinformation konfrontiert sind. Die Performance „El Gran Retorno“ der Guatemaltekin Regina José Galindo wird unmittelbar und einleuchtend wirken: Sie schickt eine Militärkapelle im Rückwärtsmarsch durch die Kremser Innenstadt, in Trauerkleidung und in Zeitlupe. Göksu Kunak beschäftigt sich in „Bygone Innocence“ mit einem Autounfall in der Türkei 1996, bei dem der ehemalige Polizeipräsident und ein Auftragsmörder der rechtsextremen „Grauen Wölfe“ getötet wurden. Sie untersucht in einzigartiger Ästhetik diese Verstrickungen – während jetzt der Istanbuler Bürgermeister verhaftet wird. Ayla Pierrot Arendt ist mit der Video-Oper „Death in Peace“ zu Gast, die während der regierungskritischen Proteste 2024 in Tiflis entstand – und gerade überschlagen sich die Ereignisse in Georgien wieder. Kunst kann so etwas aufspüren.
ask – art & science krems: Gibt es ein Bedürfnis, andere Möglichkeiten von Leben oder sogar Utopien zu sehen?
Abbasi: Es ist toll, dass Kunst jenseits einer gewissen Zweckhaftigkeit steht, aber sie unterliegt auch den Zurichtungsmechanismen unserer kapitalistischen Gesellschaft. Vielleicht wollen wir auch ein bisschen zu viel von der Kunst. In einer performativen Situation teile ich das Erlebte immer mit anderen Menschen, es entsteht eine Form von Gemeinschaft auf Zeit – das ist an sich schon etwas Utopisches.

ask – art & science krems: Kann Kunst denn als eine Form kollektiver Therapie gesehen werden, Herr Goller?
Goller: Ich könnte mir vorstellen, dass es heilende Kräfte hat, wenn Menschen mit Weltschmerz gemeinsam reflektieren. Leider scheitern Kunst und Wissenschaft häufig daran, dort zu wirken, wo es weh tut. Viele Menschen interessieren sich weder für das eine noch das andere. Sie sind überfordert mit dieser Welt. Also bleiben sie bei dem, was sie kennen, in der eigenen, sich selbst verstärkenden Bubble. Wir müssen verstehen, dass ein Großteil der Bevölkerung vermeintliche Selbstverständlichkeiten möglicherweise nicht teilt. Wenn man ganz weit rauszoomt, haben Kunst und Wissenschaft einen starken Impact auf die menschliche Entwicklung. Aber das geht weder schnell noch top-down, denn wir sind Gewohnheitstiere. Das zunehmende Desinteresse daran, wie Dinge wirklich sind, ist ein großes Problem. Zu unserer Illusion gehört auch der erhabene Humanismus. Wir neigen als Säugetiere eigentlich nicht automatisch zu schönen Künsten. Wir haben Bedürfnisse und Triebe, sind faul und denkfaul. Wir übernehmen Dinge beispielsweise von unseren Eltern, legen Emotionen rein und verbinden das mit unserem Selbst.
Abbasi: Wir haben schon in der Schule gelernt, wie die Nazis an die Macht kamen und konnten uns nicht vorstellen, wie da zugesehen wurde. Jetzt wird wieder zugesehen, und es gibt verhältnismäßig wenig Widerstand. Ich will das nicht gleichsetzen – und der Begriff Faschismus beschreibt es nicht gut genug, weil Sprache Entwicklungen immer irgendwie hinterherhinkt. Aber wie resignativ wir sind, ist traurig. Wir kapitulieren fast, rudern zurück nach dem Motto: Es bringt eh nichts.
Goller: Wenn Menschen wenig Möglichkeit zu reflektieren haben und gleichzeitig selbst Chancen wollen: Das erklärt schon einiges. Ich glaube, dass diese ganz profanen, unmittelbaren psychischen Mechanismen und Motive letztlich den Takt vorgeben. Sobald wir bedroht werden, Angst empfinden oder Wut und Zorn, dominieren sie und entscheiden letztlich.
Abbasi: Es hat Seltenheitswert, wenn Leute bereit sind, etwas zu ändern. Bei den Rechten oder den Konservativen gibt es einen gewissen Pragmatismus, bei den Linken – wo sich der Großteil der Kunstszene wahrscheinlich verortet – eher einen Idealismus, der die eigene Wirkungsmacht überschätzt.

ask – art & science krems: Es gibt soziale Blasen, die auch räumlich voneinander abgetrennt sind. Nicht alle können oder wollen ins Theater gehen. Wie wichtig ist da der öffentliche Raum, auch für die Kunst?
Abbasi: Er ist entscheidend für die Demokratie. Im öffentlichen Raum trifft man außerdem Menschen aus anderen Blasen, die mit Theater nichts zu tun haben, kein Ticket kaufen. Es reicht aber nicht, drei Mal etwas auf dem Marktplatz zu machen. In den vergangenen Jahren versuchte die Kunst, proaktiver in die Communities reinzugehen. Überhaupt hat das Theater seit etwa 15 Jahren endlich begonnen, die eigenen Strukturen und vermeintlichen Normalitäten zu hinterfragen und „entdeckte“ dabei, dass es ja Kunst von Frauen und People of Color gibt.
ask – art & science krems: Wenn wir den Blick vom Gesellschaftlichen auf die individuelle Psyche schwenken: Welche Menschen sind von diesem Krisenmodus am stärksten betroffen?
Goller: Je älter wir werden, desto weniger dynamisch ist das Gehirn. Ältere Personen tun sich leichter damit, auf ihre Schablonen zurückzugreifen. Junge Menschen sind oft leidenschaftlicher. Sie sehen, dass die Erde brennt und gründen „Fridays for Future“. Covid haben Jugendliche viel stärker abgekriegt, und darauf folgte weiterer Weltschmerz. Wir sehen heute bei Kindern und Jugendlichen einen deutlichen Anstieg bei Depressivität, Angststörungen, Erschöpfungssyndromen. Es gibt eine Abflachung der emotionalen Reaktionsfähigkeit, eine Erstarrung, verstärkt durch Social-Media-Nutzung. Diese mindert die Reaktivität des Gehirns und verhindert so, dass man etwa Freude an etwas hat. Das ist ein Teufelskreis. Eine der größten Herausforderungen für Jugendliche ist, ein positives Selbstbild zu entwickeln. Wenn sie sich ständig mit anderen vergleichen, ist das eine irrsinnige Challenge.
ask – art & science krems: Wie hat sich die Rolle von Kunst und Wissenschaft verändert angesichts dieser Krisenlage in Hinblick auf aktivistisches Engagement?
Goller: Wissenschaft ist geprägt von einem Findungsprozess. Das Suchen steht im Vordergrund. Eindeutige Antworten gibt es meist nicht, wiewohl manche Expert*innen schon klare Worte zur Klimakatastrophe finden, wie etwa der UN-Generalsekretär. Wir unterschätzen das Reaktanzphänomen: Wenn ich einen Standpunkt einnehme, und dann widerlegt den jemand, entferne ich mich möglicherweise von dieser Person. Das ist ähnlich wie eine Trotzreaktion. Wenn die Distanz groß genug wird, tue ich mir leicht zu sagen: Künstler*innen sind alle woke und Wissenschaftler*innen schwurbeln im Elfenbeinturm. Es ist also besser, über Gemeinsamkeiten zu sprechen.
Abbasi: Ich weiß wie wichtig viele digitale Plattformen für den politischen Widerstand in Diktaturen wie beispielweise dem Iran sind. Trotzdem bleibt mir persönlich ein Aktivismus, der nur noch virtuell stattfindet, fremd. Und am Theater treibt er teilweise völlig absurde Blüten. Ich bin beispielsweise gegen den BDS (Boycott, Divestment and Sanction, eine Bewegung, die Israel politisch, wirtschaftlich und kulturell isolieren will, Anm.) Aber es ist auch nicht richtig, wenn Leute ausgeladen werden, weil sie vor drei Jahren mal einen offenen BDS-Brief unterschrieben haben! Das geht in Richtung Gesinnungsschnüffelei.
