Mit Fragen zu Kunstwerken, Epochen, Stilen und Künstlerinnen hat sich Hanna Brinkmann in ihrem Studium der neuen und mittleren Kunstgeschichte in München viel auseinandergesetzt. Die deutsche Kunsthistorikerin war neben der Entstehung stets auch an der Wahrnehmung künstlerischer Werke interessiert: „Was passiert mit uns heute, wenn wir (alte) Werke ansehen? Welche Schwingungen können sie erzeugen, obwohl sie aus einer anderen Zeit stammen?“ Um die Betrachter*innen ging es im Studium fast nie. Der erste wichtige Schritt war dennoch, „mich nicht abbringen zu lassen von Witzen über die schlechten Jobaussichten, die Notwendigkeit eines Taxischeins oder reichen Ehemannes.“ Schon als Teenager besuchte sie im heimischen Baden-Württemberg gerne Ausstellungen. Noch besser wurde es, als sie Gesehenes und Empfundenes mit Kommiliton*innen nachbesprechen konnte: „Was mich wirklich fesselt, ist die Wirkung von Kunst und kulturellen Objekten auf den Menschen – sowohl subjektiv als auch in Form universeller Muster.“ Dieses Interesse verfolgte sie konsequent, nicht nur im Studentenjob als Kulturvermittlerin in der Galerie Stihl und später in der Albertina Wien; ihre Magisterarbeit verfasste sie über die Rezeption des „Weberzyklus“ von Käthe Kollwitz.

Wien als guter Ort für Museum Studies
Seit ihrem Auslandsaufenthalt 2008 wollte die heute 39-Jährige wieder nach Wien zurückkehren, weil sie hier eine Zukunft mit dem Schwerpunkt auf Kunstwahrnehmung in der einzigartigen Verbindung von empirischer Bildwissenschaft und Psychologie sah. Die Wirkung eines Kunstwerks, ob als Original, als technische Reproduktion (Fotografie / Digitalisat) oder digital erstellt, ist nämlich am besten inter- und transdisziplinär zu erforschen. Diese Art zu arbeiten, schätzt sie sehr, „es hat einen großen Mehrwert und ist für mich erfüllend, auch wenn man erst einmal eine gemeinsame Sprache entwickeln muss, die Ergebnisse fast immer Teamarbeit sind und manches länger dauert“. Ihre grundlagenfokussierte Doktorarbeit zum Thema „The Cultural Eye. Eine empirische Studie zur kulturellen Varianz in der Kunstwahrnehmung“ entstand im Rahmen eines ÖAW Doc-Team Stipendiums an der Universität Wien.
Seit September 2020 arbeitet Hanna Brinkmann als Senior Researcher in Teilzeit an der Universität für Weiterbildung Krems, die für ihre interdisziplinäre Forschung gut aufgestellt ist. Ans Zentrum für Kulturen und Technologien des Sammelns passen Museum- und Visitor Studies sowie digitale Kulturvermittlung gut hin. Sie kann zentrumsübergreifend in enger Kooperation mit der Praxis forschen und unterrichten (z.B. Escape Room Archiv der Zeitgenossen, Projekt Gesundes Museum).

Durchdachtes Forschungsdesign
Über die Wirkweise von Kunstwerken ist vieles bereits bekannt, aber wenn es um digitale Reproduktionen oder „born digitals“ geht, wird derzeit noch mehr angenommen, als je erforscht und empirisch überprüft wurde. Kein Wunder, denn es ist sehr aufwändig. Seit März 2024 untersucht Hanna Brinkmann mit ihrem Team die Kunstwahrnehmung im postdigitalen Zeitalter. Das vom FWF geförderte Forschungsprojekt OrDiV „Art Experience in the (Post-) Digital Age. { original | digital | virtual }“ führt sie in Kooperation mit dem Belvedere Research Center und dem Department für Medien und digitale Technologien der FH St. Pölten durch. Mit im Team sind auch ehemalige Kolleg*innen von der Uni Wien – aus der Kunstgeschichte und der Psychologie. Sie will herausfinden, ob und wie das „Trägermedium“ des Kunstwerks die Wahrnehmung beeinflusst. „Digitale Surrogate sind typisch für unsere Zeit, wir sehen uns sehr viel digital an. Mit der Coronapandemie sind digitale Reproduktionen noch mehr in den Fokus gerückt. Die Konsequenzen werden auf Fachkonferenzen viel diskutiert.“ Häufig wird in diesem Zusammenhang Walter Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ zitiert, geschrieben im Zeitalter der Fotografie. Für manche zu häufig: „Einige verdrehen nur noch die Augen, wenn von der Aura des Originals die Rede ist.“

Wieviel Aura hat ein VR-Zwilling?
Um der Sache auf den Grund zu gehen, arbeitet sie mit einem Mixed-Methods-Ansatz, der Eye-Tracking, qualitative Interviews und Post-Hoc-Fragebögen eine Woche nach dem Ausstellungserlebnis umfasst. Sieben expressionistische Kunstwerke gibt es in insgesamt vier Versuchssettings zu erleben: drei von Egon Schiele, zwei von Richard Gerstl, eines von Helene Funke und eines von Oskar Kokoschka. Einmal als Original im Raum „Psyche und Provokation“ im Oberen Belvedere, einmal in der Online Sammlung des Belvedere Research Center (2D), einmal als Augmented Reality Anwendung vermittelt über das Smartphone und einmal in einem an der FH St. Pölten erstellten virtuellen Zwillingsraum mit Virtual Reality Brille in 3D. Bereits abgeschlossen ist die Datenerhebung für die ersten beiden Settings und mehr als 100 Personen haben mitgemacht. „Wir arbeiten mit echten Museums-Besucher*innen ab 18 Jahren, die aus eigener Motivation mitmachen. Wir sehen glücklicherweise eine große Bereitschaft, Zeit zu investieren und sich an der Forschung zu beteiligen. Auch das Belvedere unterstützt uns sehr und hat extra für uns die Hängung des Raumes bis zum Abschluss der Forschungsarbeiten belassen.“

Auf ein Lieblingskunstwerk lässt sich die Fachfrau nicht festlegen: „Ich finde Kunstwerke spannend, die sich mit Sehprozessen konkret oder abstrakt auseinandersetzen. Oder solche, die erst auf den zweiten Blick etwas preisgeben. Kunstwahrnehmung ist ein Prozess, der sich über Zeit entfaltet – das mag ich besonders.“ Der Reiz ihrer Forschung an der Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst liegt darin, „dass bildende Kunst ja in der Regel für ein Publikum gemacht wurde. Ob die Künstler*innen die Wahrnehmung ihrer Werke interessiert hätte, ist wohl von der Persönlichkeit abhängig. Ausstellungsmacher*innen interessieren sich aber jedenfalls dafür.“
Astrid Kuffner