„Lesen stärkt das innere bildgebende Verfahren“, beschreibt Rüdiger Safranski im ersten Kapitel von „Heilkraft der Literatur“, erschienen bei Springer. Marga Brigitte Wagner-Pischel, Präsidentin und CEO der Danube Private University GmbH und Herausgeberin des Sammelbandes, ergänzt: „Wenn man dem Menschen wirklich helfen möchte, ist es unabdingbar sowohl vom Labor als auch von der Lebenswelt der Patient*innen etwas zu verstehen. Anders ausgedrückt: Menschen, die heilen wollen, also Ärzte und Ärztinnen, müssen sich gut in die Situation der Kranken hineinfühlen, man könnte auch sagen, diese ‚lesen‘ können“.
Literatur eröffnet für Marga Wagner-Pischel „viele Ebenen, menschliches Verhalten in unterschiedlichen Lebenslagen zu erfahren. Sie ermöglicht es Leser*innen empathischer und verständnisvoller auf einen kranken Menschen einzugehen“. An der Danube Private University wird darauf geachtet „die Medizin mit Kunst und Kultur zusammenzudenken und die medizinisch-technische Ausbildung mit einer ästhetischen Sinnesschulung zu verbinden“, so Marga Wagner-Pischel. Was bedeutet das konkret? Die Medizin-Studierenden haben regelmäßig die Möglichkeit, Vorträge zu besuchen – und tun das auch. Zu Besuch kommt etwa Sebastian Witte, Redakteur beim Wissensmagazin Geo+ zum Thema „Ruhig sein in bewegten Zeiten“.

Im Juli spricht Prof. Dr. Achatz Freiherr von Müller, einer der Autoren des Sammelbandes, über das „Vita secundam naturam“. Der Leitsatz der Stoischen Philosophie besagt, dass das Glück und das höchste Gut darin liegt, sein Leben gemäß der Natur zu führen. In seinem Buchbeitrag blickt Müller zurück zum Kirchenvater Augustinus, den der Ruf „Tolle legge“ („Nimm‘ und lies“) erreichte und veränderte. Er schreibt auch über ein mittelalterliches Medizinhandbuch für Laien, das sogenannte Tacuinum, über Machiavelli und verbotene Literatinnen wie Gaspara Stampa. Sein Fazit: Bücher eröffnen einen Raum der Freiheit an anderen Orten zu anderen Zeiten und geben Einblick in die Denkweisen anderer Geschlechter, Ethnien etc. Angesichts des Anspruchs heute – so weit möglich und bekannt – personalisierte Medizin anzuwenden, steht es Ärzten und Ärztinnen gut an, nicht nur die eigene Biografie und den eigenen Körper zum Maßstab zu machen.
Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel, ein weiterer Autor des Buchs „Heilkraft der Literatur“ war vergangenen Herbst zu Gast und sprach über „Siddharta“ von Hermann Hesse. Im Sammelband schreibt er über die vielen „Schlüsselromane“, die im Krankenhaus spielen, genannt sei hier beispielsweise „Der Zauberberg“ von Thomas Mann. Prof. Dr. Michael Geissler wiederum sprach vor angehenden Mediziner*innen an der DPU über „Musikhören als Medikament“. Während also Labor, Befund und Normwerte der Krankheit eine gewisse Objektivität anmessen, bietet Literatur Farbe, Lebenswelten und erzählt über das Kranksein. Auf den Punkt trifft es auch ein Zitat der Krankenschwester Stacy Nigliazzo „Nurses and writers are equally watchful“ aus dem Kapitel von Katharina Fürholzer.

Das Buch selbst spannt einen großen Bogen von berühmten schreibenden Ärzten wie Arthur Schnitzler oder Wundarzt Franz Schiller bis zu Beschreibungen des Krankseins aus Patient*innensicht wie von Wolfgang Herrndorf. Es geht um „kranke Dichter“ wie Kleist, Hölderlin oder Lenz, auch um Spitalsserien, deren Erfolg mit darin liegt, dass Krankenhäuser Schicksalsorte sind. Es werden literarische Arztfiguren vorgestellt, abschreckende und anziehende, und zudem wird beleuchtet, wie Mediziner*innen mit Patient*innen sprechen z.B. bei Molière. Es geht um Goethe und Werther, Hitler und Max Nordau, um Maugham und das biopsychosoziale Modell aus 1977 von George Engel, Tellkamp und Susan Sontag (Krankheit als Metapher), Tolstoi und William Carlos Williams. Gerhard Köpf hat sich als Herausgeber 2006 die Mühe gemacht, das ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) literarisch aufzuarbeiten. Philosoph Christoph Quarch schreibt über den heilenden Logos, die Rede- und die Heilkunst ab Sokrates. Das Buch ist illustriert mit Bildern von László Lákner. Literatur, so kann man es vielleicht zusammenfassen, heilt nicht wie ein Skalpell. Aber sie wirkt.
Astrid Kuffner