Auf dem Weg in die Volksschule plante Michaela Binder gern ein paar Minuten länger ein, um Grabungsarbeiten in der Kremser Altstadt durch den Bauzaun zu beobachten. Auch Tierknochen fanden den Weg in die Schultasche der Zehnjährigen. Die Bioarchäologin war also früh fasziniert von uralten Spuren menschlicher Besiedlung und wusste genau, was sie einmal werden will. Mit den Eltern war sie als Jugendliche in Stonehenge und Ephesos – nur eben nicht fadisiert. Die Kremserin begann mit einem Anthropologiestudium an der Universität Wien, später kam auch mit Ur- und Frühgeschichte dazu, und heute ist sie in jenem kleinen Teilbereich tätig, „der das menschliche Skelett nicht nur in Hinblick auf den biologischen Organismus betrachtet, sondern auch als Quelle der Geschichtsforschung, als Spiegel kultureller Errungenschaften und des sozialen Umfelds“.

Entdeckungsmomente
Die Knochenleserin war 2004 bis 2006 an den Ausgrabungen beteiligt, bei denen die „Zwillinge vom Wachtberg“ unter einem Mammutschulterblatt gefunden wurden. Michaela Binder selbst hat einen dritten verstorbenen Säugling an der 32.000 Jahre alten Fundstelle freigelegt. Reizvoll an der unwegsamen Karriere als Wissenschaftlerin ist für sie, in der Welt herumzukommen: „Das ist nicht die ganze Zeit wie bei ‚Indiana Jones Jäger des verlorenen Schatzes‘ – aber es gibt diese Momente – und das ist in der Gewichtung auch gut so. „Im Sudan sind wir mit der Taschenlampe in unterirdische Grabkammern hineingekrochen, wie Howard Carter, der das Grab von Tutanchamun entdeckt hat. ‚I see wonderful things‘, soll er beim ersten Blick hinein ausgerufen haben.“ Heute ist sie Prokuristin bei Novetus, einer Firma für bauhistorische Untersuchungen und archäologische Dienstleistungen, leitet bioarchäologische Forschungsprojekte und unterrichtet als externe Lektorin an der Universität Wien.

Was liest Michaela Binder nun aus uralten Knochen heraus und welche gefinkelten Methoden nutzt sie dafür? Nun, sie braucht „nur“ ihren sehr gut geschulten Blick: „Ich arbeite mit freiem Auge, manchmal verwende ich eine Lupe oder ein Auflicht-Mikroskop. Ich bin spezialisiert auf die Untersuchung von Krankheitsanzeichen, wobei ich entweder über einzelne Biographien rekonstruiere oder über Serien von Skeletten einer Zeit oder Bevölkerungsgruppe durch statistische Auswertungen gemeinsame Probleme festmachen kann.“ Je nach Erhaltungszustand arbeitet sie zwei bis drei Stunden an dem knöchernen Stützapparat und dokumentiert die Abweichungen vom gesunden Zustand im entsprechenden Alter: „Das Skelett kann auf einen Krankheitsreiz nur mit Knochenaufbau oder -abbau reagieren. Wir sehen jedenfalls nur chronische Erkrankungen. Die nächsten spannenden Schritte sind Interpretation und Diagnose.“ In der Fachwelt fiel Michaela Binder bereits mit Erkenntnissen zu Prothesen und Arterienverkalkung auf. Häufig liegt die Ursache einer Abweichung nicht in einem Erreger. Aber tatsächlich lassen sich manche Infektionskrankheiten in spezialisierten Partner-Labors anhand alter DNA nachweisen.

Begünstigter Siedlungsraum
Krems ist durch den Zusammenfluss von Donau und Krems in einer begünstigten geografischen Lage mit langer Siedlungskontinuität, weil Menschen immer die Nähe zu Flüssen gesucht haben. Durch den Löss am nördlichen Donauufer sind sehr alte Zeugnisse erhalten geblieben. Sie werden gefunden, weil die Stadt wächst und Siedlungsgebiet aufschließt. Hier trifft eine lange Siedlungsgeschichte auf gute Bodenbedingungen, es wird viel gebaut, wodurch Funde zutage treten und auf die nötige Sensibilisierung treffen – mit einer langen Tradition der Erforschung und Erhaltung im museumkrems. 2023 hat Michaela Binder für das Kulturamt eine Erhebung aller archäologischen Fundstellen im Stadtgebiet gemacht und ein Konzept erstellt, wie diese der Öffentlichkeit gesamthaft präsentiert werden können. Insgesamt wird die öffentliche Präsentation der Ergebnisse archäologischer Grabungen in den letzten Jahren zunehmend wichtiger und ist auch für Michaela Binder ein wichtiger Teil ihrer Arbeit. Zumeist haben wir Forscher*innen mit Pinseln und Schäufelchen mit wissenschaftlichen Fragestellungen vor Augen, aber tatsächlich werden 95 Prozent aller archäologischen Maßnahmen anlassbezogen im Vorfeld von Bauarbeiten von archäologischen Dienstleistern wie Novetus im Auftrag von Bauträgern durchgeführt. Hohe methodische Standards und sorgfältige Dokumentation gelten immer. Grabungen sind auch ein Handwerk, in dem Übung und Erfahrung zählt. „Wir können meistens keine Forschung machen, sondern bereiten lediglich die Grabungsdaten nach den Richtlinien des Bundesdenkmalamts auf. Manchmal suchen wir einen Kooperationspartner, beispielsweise eine Universität oder eine Forschungseinrichtung zur wissenschaftlichen Aufarbeitung.“ Sie selbst bezeichnet es als Glück, zusätzlich ein vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF gefördertes Projekt zu leiten über Wiens erstes Frauenspital, das 1709 gegründeten Elisabethinenspital. Dort wurden 2019 die Skelette von 356 Patientinnen freigelegt und erzählen ihr gerade die Lebensgeschichten einfacher Frauen aus dem 18. Jahrhundert.

9 Antworten
Eine faszinierende Darstellung der Tätigkeit dieser Wissenschaftlerin. Wird sie sich auch der Funde am ehemaligen Friedhof beim Dom der Wachau annehmen? Da wären sicherlich hochinteressante Erkenntnisse zu erwarten.
Sehr geehrter Herr Dr. Friedl, wir danken Ihnen für Ihre Anfrage und haben diese an die Wissenschafterin zu Beantwortung weitergeleitet. Ihr ask-Team
Hochinteressant. Wird die Wissenschaftlerin auch die Funde am Kremser Pfarrplatz bearbeiten?
Sehr geehrter Herr Dr. Friedl, wir danken Ihnen für Ihre Anfrage und haben diese an die Wissenschafterin zu Beantwortung weitergeleitet. Ihr ask-Team
Liebe Michi,
Ich bin stolz darauf, eine Großnichte zu haben, die in Bioarcheologie so profund ausgebildet und erfolgreich in ihrer Arbeit ist wie du. Ich wünsche dir viel Freude und Erfolg bei deiner weiteren Arbeit als Prokuristin bei Novetus. Der Donauraum zwischen Krems und Pöchlarn ist uraltes Siedlungsgebiet/Nibelungenlied!
der Boden birgt sicher noch viele Geheimnisse.
Liebe Grüße Emmerich
DANKE vielmals für diesen Bericht über die aktuelle Arbeit von Frau Dr. Binder, die ihre Forschungsarbeit ja auch schon vor Jahren in Vorträgen in Krems präsentiert hat.
Dazu ein Frage, bitte:
Werden die Ergebnisse ihres Projekts über die Fundstellen im Raum Krems auch der Öffentlichkeit präsentiert (außer gelegentlich im Stadt-Museum oder in der Rathaushalle) – wie, wann und wo?
Mit besten Grüßen,
Heinrich Scheuch
Sehr geehrter Herr Mag. Scheuch, vielen Dank für Ihren Kommentar! Die Erhebung der archäologischen Fundstellen durch Michaela Binder und ihr Konzept sind Grundlage für unsere weitere Arbeit im museumkrems. Die Präsentation all dieser einzigartigen Funde ist ein Schwerpunktthema der nächsten Jahre. Wir wissen um den Wert dieses besonderen Schatzes, den Krems und Region zu bewahren hat! Ihr ask-Team
Vor einiger Zeit besuchte ich Krems um die Fundstelle der „Zwillinge vom Wachtberg“ zu sehen!
Enttäuscht war ich von der kümmerlichen Hinweistafel!
Auf diesen einmaligen Fund sollte doch mit einer repräsentativen Schautafel hingewiesen werden!!
( Für die Venus von Willendorf wurde sogar ein kleines Museum gebaut!)
Mit freundlichen Grüßen!
Maria Th.Jelinek-Dobrovsky
Sehr geehrte Frau Jelinek-Dobravosky, vielen Dank für Ihren Kommentar! In Krems und in der Region wurden in den vergangenen Jahrzehnten aufsehenerregende archäologische Funde entdeckt. Eine besondere Bedeutung haben die „Zwillinge vom Wachtberg“ als weltweit älteste Zwillingsbestattung. Nicht zuletzt wegen dieser herausragenden Rolle, die Krems einnimmt, ist die Präsentation der Funde ein Schwerpunktthema des museumkrems in den nächsten Jahren. Einerseits geht es darum, die Fundstellen besser sichtbar zu machen, andererseits auch um deren Präsentation im museumkrems. Ihr ask-Team