Als „Zwillinge vom Wachtberg“ wurden die altsteinzeitlichen Skelette zweier Neugeborener bereits 2005 bezeichnet, als ein ein Forschungsteam der Österreichischen Akademie der Wissenschaften den Sensationsfund freilegte. Die Anthropologin Maria Teschler-Nicola war von Anfang an dabei und erzählt ask – art & science krems, welcher Aufwand betrieben wird, um Vermutungen wissenschaftlich zu bestätigen.
15 Jahre hat es gedauert, bis die Anthropologin Maria Teschler-Nicola gemeinsam mit vielen Kolleg*innen hieb- und stichfest beweisen konnte, was das Ausgrabungs-Team 2005 vermutet hatte, als die beiden Säuglingsskelette aus der Altsteinzeit nach rund 31.000 Jahren wieder ans Tageslicht kamen. Es sind definitiv menschliche Relikte eineiiger Zwillinge, zwei Buben. Der eine starb rund um die Geburt, der andere wurde einige Wochen gestillt, verstarb dann und wurde nachträglich zu seinem Bruder gebettet. In eine Grube, wenige Meter von der Feuerstelle des Lagers entfernt, geschützt von einem Mammutschulterblatt – heute in fünf Meter Tiefe.
Mit dem Wort Sensationsfund geht die Wissenschaft sparsamer um als Medien. Doch ein Trommelwirbel ist durchaus angebracht. Die „Zwillinge vom Wachtberg“ beweisen gemeinsam mit einem dritten Säuglingsskelett, das 2006 an der gleichen altsteinzeitlichen Grabungsstätte gefunden wurde, bislang Unbekanntes: Auch Säuglinge waren wertvolle Mitglieder der steinzeitlichen Jäger- und Sammler-Gesellschaften, die mit personalisierten symbolischen Handlungen verabschiedet wurden. Die Babys wurden innerhalb der Lagerstrukturen bestattet, mit Grabbeigaben versehen und mit einer Rötelpaste eingerieben, was auf ein Ritual schließen lässt. Zudem wurden die beiden Geschwister nacheinander und nebeneinander zur letzten Ruhe gelegt. Das Neugeborene hatte eine Kette mit durchlochten Schnecken und einem durchbohrten Fuchszahn um den Hals, dem Säugling wurde eine Kette aus Mammutelfenbein-Perlen auf den Körper gelegt. Das dritte Grab gehörte einem weiteren, wenige Monate alten Buben.
DNA-Fragmente geben Aufschluss
Bei allen drei Individuen ist es gelungen, brauchbare DNA-Proben aus den Felsenbeinen (Teilen des Schädelknochens) zu ziehen, das Geschlecht und ihre familiäre Verwandtschaft zu bestimmen. Es bestanden zudem Verwandtschaftsbeziehungen zu anderen altsteinzeitlichen Menschengruppen, die beispielsweise aus einem Fundort in Südmähren (Dolní Věstonice, Tschechien) bekannt sind, wie das Team um Ron Pinhasi (Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien und Human Evolution und Archaeological Science) herausfand. Die Aussagekraft ist umso erstaunlicher, wenn man sich das Alter, den Zustand und die Zartheit der Baby-Skelette und ihrer winzigen Einzelteile vor Augen führt. Es wurde versucht, den Fund zunächst in situ zu belassen und zu durchleuchten, um tiefer liegende Schichten zu erkunden, aber der hohe Kalkgehalt des feinen Lössbodens ließ das nicht zu, berichtet die emeritierte Forscherin am Naturhistorischen Museum Wien (NHM). Beide Bestattungen wurden im Block geborgen und in das NHM transportiert, wo sie unter kontrollierten Bedingungen (Klimakammer) weiter verwahrt wurden.
Vollständige Bergung – neue Erkenntnisse
2015 wurde letztlich entschieden, das Zwillingsgrab vollständig freizulegen, um weitere Fragen zu beantworten und den einmaligen Befund virtuell dreidimensional zu rekonstruieren. Dabei wurden die millimeterweisen freigelegten Schichten mittels Oberflächenscan dokumentiert. So konnten wichtige Details bezüglich der Grabbeigaben offengelegt werden: „Ich hatte permanent eine Stirnlupe auf und konnte mit Pinzette und Pinsel winzige Teile bergen, wie die Schnecken- und Fuchszahnanhänger und kleinste Skelettelemente, darunter auch noch gut erkennbare Funktionseinheiten der kleinen Knöchelchen des Fuß- oder Handskeletts“, erinnert sie sich. Die größte Herausforderung war es allerdings, die Teile der Wirbelsäule freizulegen. „Die winzigen Wirbelkerne sind dünnwandig und sehr porös. Bei jedem einzelnen bestand die Möglichkeit, dass er beim Aufnehmen mit der Pinzette einfach zerbröselt – die schlimmste aller Vorstellungen“, so Teschler-Nicola. Diese Arbeit setzt Erfahrung voraus. Knochenfunde und Skelette hatte die Anthropologin schon viele in Händen gehabt – früher in der Gerichtsmedizin, später bei ihren wissenschaftlichen Arbeiten am Museum und bei archäologischen Grabungen.
Die Abschätzung des Sterbealters der Säuglinge wurde anhand der Größe der einzelnen Skelettelemente durchgeführt; dafür gibt es Kopien, künstliche Skelette – vom Fötus in verschiedenen Mondmonaten bis zu Säuglingen nach der Geburt. Es sind die winzigen Geschwister der Schulskelette aus den Schränken in den Biologiesälen des Landes. Als bestgeeignet für die Altersabschätzung haben sich aber die Milchzähne erwiesen: Im etwa 30.000 Jahre alten Schmelz der winzigen Zahnkeime wurde bei allen drei Individuen nach einem Stillsignal gesucht, angezeigt als minimale Verschiebung im Barium-Kalzium-Verhältnis. Einer der Zwillinge wurde nie gestillt, er ist demnach um die Geburt verstorben. Bei seinem Bruder liegt ein klares Stillsignal vor, was in Kombination mit anderen Zahnmerkmalen ein Überleben von 4 bis 5 Wochen nahelegt.
Wachau als Lagerplatz
Die Wachau war schon in der Altsteinzeit besiedelt. Wo heute an den Südhängen Wein wächst, wo es damals Wasser, Feuerholz, Auwald und jagdbare Tiere gab, schlugen in der als Gravettien bezeichneten Epoche (34.000 bis 26.000 v. Christus) entlang der Donau und bis nach Südpolen ziehende Jäger-und Sammlergesellschaften ihr Lager auf. Geeignete Plätze wurden wiederkehrend aufgesucht. Das Gravettien ist die wichtigste archäologische Kultur des mittleren Jungpaläolithikums in Europa, die Spuren vom heutigen Portugal bis zum heutigen Russland hinterlassen hat.
Als junge Forscherin fragte sich die Anthropologin manchmal, warum zwischen dem Fund und der Publikation manchmal Jahrzehnte vergingen. Heute weiß sie es und macht unermüdlich weiter mit der Suche nach belastbaren Ergebnissen. Wie geht es weiter? Nach einem von der Gesellschaft für Forschungsförderung Niederösterreich gefördertem Pilotprojekt, bei dem ausgewählte Skelettelemente eines der beiden Neugeborenen eingescannt, virtuell präpariert, digital rekonstruiert und in ein virtuelles Datenrepositorium eingepflegt wurden, wird in den kommenden drei Jahren die 3D-Rekonstruktion der Bestattung angestrebt. Dies geschieht mit Kooperationspartner*innen der Karl Landsteiner Privatuniversität, der Universität für Weiterbildung Krems, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und des Naturhistorischen Museums Wien. Im Biomechanik-Labor der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften wird unter Leitung von Dieter Pahr und Stefanie Stelzer jedes Knöchelchen eingescannt und die Bestattung rekonstruiert. „Dabei wird wieder die interdisziplinäre Zusammenarbeit gefragt sein, denn das braucht die Erfahrung aus allen Disziplinen“, so Teschler-Nicola. Das so entstehende 3D-Modell des Fundes wird Forschenden eine virtuelle Betrachtung und Analyse aus allen Blickwinkeln ermöglichen und die Sichtbarkeit dieses bedeutsamen kulturellen Erbes für die Öffentlichkeit erhöhen“.