ask – art & science krems: Wie anerkannt ist es heute in Österreich, seelisch zu leiden? Kann man darüber sprechen wie über ein gebrochenes Bein?
Anna Höflich: Es gibt ein seelisches Leiden in der Jetztzeit, das situationsadäquat sein kann, und es gibt psychische Erkrankungen. Das ist ein fließender Übergang, aber doch ein Unterschied zwischen einem Status, wo man mit eigenen Strategien noch klarkommt, und einer behandlungsbedürftigen Erkrankung. Diagnosen wie ADHS im Erwachsenenalter oder eine Autismus-Spektrum-Störung, auch Burnout, liegen im Trend: weil sie Erklärungen für Schwierigkeiten liefern. Eine unberechenbare Psychose, die den Leuten Angst macht, bleibt aber tabuisiert.
Thomas Sautner: Ich halte es für wichtig, manchmal seelisch zu leiden. Denn wenn man das nie täte, wäre ja alles in Ordnung. Es ist aber nicht alles in Ordnung. Nur wenn wir das Leiden zulassen, kann man an den Ursachen etwas verändern.
ask – art & science krems: In „Pavillon 44“ von Thomas Sautner sagt der Psychiater Siegfried Lobell: „Von der Psychiatrie wird erwartet, ja, verlangt, dass sie die Menschen so rasch wie möglich wieder funktionstüchtig macht.“ Wie empfinden Sie das?
Höflich: Funktionsfähigkeit im Alltag verbessern, ist für mich ein Ziel der Rehabilitation nach einer Behandlung auf der Psychiatrie. Das bedeutet aber nicht zu funktionieren, sondern etwas zu schaffen, sich verwirklichen, Ziele erreichen – das ist für jeden Menschen wichtig.
Sautner: Lobell äußert einen Wunsch der Patient*innen. Der Mensch ist ein Gesellschaftswesen, angewiesen auf das Feedback anderer, will nicht negativ auffallen. Es sollte aber nicht alles in die Mitte nivelliert werden. Wobei die scheinbare Normalität ohnehin kein fades Dahinleben mehr ist. Wir haben eine starke Polarisierung in der Gesellschaft – da wird es zur erstrebenswerten Herausforderung, die Mitte zu finden.
Höflich: Auf der Psychiatrie erleben wir jeden Tag, dass Wahrnehmung und Realität nicht objektiv sind, sich unterscheiden, anders erlebt werden können. Ich mache mir keine Gedanken mehr darüber – es ist meine neue Normalität. Aber Neulingen macht das manchmal Angst. Es belastet sie, dass es keine Grenze gibt, kein Geländer, an dem man sich festhalten kann.
ask – art & science krems: Thomas Sautner, Sie recherchierten 2010 bis 2015 im Otto-Wagner-Spital, auf der sogenannten Baumgartner Höhe in Wien. Wie sind Sie vorgegangen?
Sautner: Ich verbrachte damals mehrere Wochen in einem Pavillon – wie die Figur Aliza Berg, nur ohne Übernachtung. Danach suchte ich immer wieder Kontakt und führte Gespräche mit Patient*innen, Pfleger*innen, Angehörigen, Patientenanwält*innen. Ich fürchtete, etwas falsch zu machen, war extra vorsichtig und sensibel. Der mit der meisten Angst war wohl ich. Viele Patient*innen waren sehr interessiert daran, mir ihre Geschichte zu erzählen. Alle anderen konnten mir aus dem Weg gehen. Man fragt sich bald, wie anfällig man selbst für den Wahnsinn ist. Mir ist mehrfach gesagt worden, dass das eine gesunde Reaktion ist.
Höflich: Es kann wirklich jedem passieren. Beinahe jede*r Dritte, rund 30 Prozent der Bevölkerung, hat irgendwann im Leben eine psychische Erkrankung. Die Angst, durch ein falsches Wort eine negative Kaskade auszulösen, kann ich gut nachvollziehen. Das wird mit der Erfahrung besser.
Sautner: Sonst machen wir uns nicht viele Gedanken darum, was wir mit Worten auslösen. Ein Teil der Sensibilität, die wir in der Psychiatrie für nötig erachten, würde uns in der offiziell „normalen“ Welt guttun.
Höflich: Es braucht mehr Sensibilisierung der Gesellschaft für Warnsignale im Sinne einer Prävention. Man kann vor allem bei Depressionen und Angsterkrankungen gut vorbeugen, mit niederschwelliger Aufklärung über mentale Gesundheit. Bei vielen jungen Leuten dauert es vom ersten Symptom bis zu einer fachärztlichen Behandlung noch immer mehrere Jahre.
ask – art & science krems: Was sind die Top 3 psychischen Störungen – also: Woran leidet in Österreich?
Höflich: Rund20 Prozent der Menschen haben irgendwann in ihrem Leben eine Depression, häufig sind auch Angsterkrankungen, wie Panikstörungen, und Abhängigkeitserkrankungen.
Sautner: Ich wüsste nicht, ob ich schon einmal eine Depression gehabt habe, oder nur in einer stark melancholischen Stimmung war. Wie erkennt man, wann die Grenze überschritten ist? Merkt man das auch körperlich?
Höflich: Es gibt diagnostische Kriterien in Bezug auf Ausprägung und Dauer der Symptome. Es geht jedoch auch um Einschränkungen im Alltag: Wenn man nichts mehr schafft und stark eingeschränkt ist. Wie stark das empfunden wird, ist auch subjektiv. Es gibt wohl schwergradig Depressive, die sich länger durchs Leben schleppen und mittelgradig Depressive, die früher zum Psychiater oder zur Psychotherapeutin gehen. Grundsätzlich klingen Depressionen manchmal auch von alleine wieder ab, es dauert aber viel länger. Einige werden mit unklaren Beschwerden wie Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen oder Bauchschmerzen zunächst bei Hausarzt oder Hausärztin vorstellig. Da werden dann keine körperlichen Erklärungen gefunden, weil es sie nicht gibt. Das kann ein Teufelskreis werden.
ask – art & science krems: Inzwischen hat das Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders (DSM) eine gewisse populärwissenschaftliche Bekanntheit. Dieses qualifiziert eine Trauer, die länger als zwei Wochen schmerzt, als Depression. Stimmt das so?
Höflich: Trauer ist sowohl individuell als auch kulturell ein sehr variabler Prozess. Es stimmt, dass früher bestehende Zeitkriterien hier verkürzt worden sind. Es muss aber beachtet werden, dass Trauer sich doch von einer schweren Depression unterscheidet. Häufig bestehen beispielsweise bei Trauer nicht nur negative Gefühle, sondern es können auch positive Gefühle – beispielsweise beim sich Erinnern an eine verstorbene Person – induziert werden. Trauer ist ein fluktuierender Zustand. Depression ist hingegen eher ein statischer von durchgehender Niedergeschlagenheit, häufig begleitet von Gefühlen der Wertlosigkeit und psychomotorischen Symptomen. Natürlich kann bei einer langen und schweren Trauerreaktion die Unterscheidung manchmal schwierig sein. Und wenn ein Mensch eine Trauerphase nicht bewältigen kann, ist eine professionelle Unterstützung sicher sinnvoll und wichtig.
Sautner: Früher gab es das Trauerjahr. Wenn man zu früh zu lustig war, wurde das nicht gerne gesehen. Für mich wäre der nachvollziehbarste Grund für diese Verkürzung der Trauerzeit: Geschäftemacherei, denn nach 15 Tagen kann man Medikamente verschreiben.
ask – art & science krems: David Foster Wallace, der sich das Leben nahm, beschrieb Depression auf unglaublich plastische Weise. Kann Literatur helfen, psychische Erkrankungen zu verstehen?
Sautner: Da bin ich befangen. Mir selbst haben Leser und Leserinnen in Bezug auf andere Dinge gesagt, dass sie durch meine Bücher etwas verstanden haben. Es wäre furchtbar, wenn Literatur nichts für die Wahrnehmung täte. Wobei beim Schreiben selbst so viel passiert: Man entdeckt Dinge, die einem sonst verborgen blieben, kommt sich selbst auf die Schliche und schaut der Welt hinter den Vorhang.
ask – art & science krems: Im Roman stehen die Psychiater Lobell und Thaler für unterschiedliche Ansätze – während einer auf den intellektuellen Austausch im Gespräch setzt, verlässt sich der andere auf neueste pharmazeutische Errungenschaften und Technologie. Zugespitzt gefragt: Gespräche versus Gehirnchemie, worauf setzen?
Höflich: Verschiedene Wege führen zum Ziel. Manche wollen lieber Medikamente, andere lieber Psychoanalyse. Es gibt verstärkt Bestrebungen, Alltagsphänomene wissenschaftlich zu untersuchen. Diese zeigen, dass Umweltfaktoren eine nachweisbare Wirkung auf die Gehirnchemie haben.
Sautner: Offenbar führen uns archaische Dinge, Wasser, Natur, das, woraus wir bestehen, zurück an den Wesenskern des Menschen: Je mehr wir uns davon entfernen – durch Beton, Hyperstress oder Smartphones im metaphorischen und konkreten Sinn – desto höher wird das Risiko, dass wir verrückt werden, aus der gesunden Normalität herausrücken.
Höflich: Bei uns in der Klinik gibt es eine Achtsamkeitsgruppe, eine Kochgruppe, Brettspiele, Spaziergänge. Die Patient*innen können miteinander sprechen, spielen und musizieren. Auch kreatives Gestalten kommt extrem gut an, auch bei Menschen, die sonst nur am Smartphone hängen.
Sautner: Was mich interessiert: Ändert sich die Biochemie, weil ich schlechte Stimmung habe – oder ist es umgekehrt?
Höflich: Wir wissen nach wie vor extrem wenig über das Gehirn. Das Gehirn ist extrem plastisch und reagiert auf eine Vielzahl von Einflüssen innerhalb von Sekunden. Es könnte z.B. jemand von klein auf eine Imbalance in Bezug auf das sogenannte „Glückshormon“ Serotonin haben, aber das mit bestimmten Kompensationsmechanismen ausgleichen. Wenn diese nicht mehr greifen, kippt die Balance und das Gehirn schafft es nicht mehr, den vorherigen Zustand herzustellen. Wenn der Patient oder die Patientin ein halbes Jahr bis Jahr Antidepressiva nehmen, gehen wir davon aus, dass sie ins Gleichgewicht zurückpendeln.
Sautner: Wenn ich ein Antidepressivum verschrieben bekäme, würde ich das vielleicht eine schlanke Woche ausprobieren, weil ich Angst hätte, dass das in eine Situation kippt, die ich nicht mehr kontrollieren kann.
Höflich: In einer schlanken Woche erreicht man hauptsächlich Nebenwirkungen, sonst nichts.
ask – art & science krems: Die Psychiatrie ist ein Schauplatz der Literatur, von Christine Lavant über Cormac McCarthy bis eben zu Thomas Sautner. Was macht den Reiz daran aus?
Sautner: In meinen Büchern geht es immer um die alten griechischen Fragen: Woher kommen wir, wohin gehen wir und warum? In „Pavillon 44“, der in Wirklichkeit nicht existiert, gibt es als allegorische Schauplätze das „normale“ Wien und das „abnormale“, die ineinander übergehen. Es gibt diese Anekdote. Bei der Errichtung des offenen Geländes auf der Baumgartner Höhe hatten die Wiener*innen Angst, dass „die ganzen Narrischen“ in die Stadt kämen. Der Kaiser sagte dazu, dass es also keinen Unterschied zum aktuellen Zustand gäbe. Meinen Recherchen zufolge überschreitet ein gesunder Mensch x-fach pro Tag die Grenze zum Wahnsinn – aber er schwingt wieder zurück.
ask – art & science krems: Gibt es bei den psychischen Störungen noch viel zu entdecken?
Höflich: Vor allem in Bezug auf individuell zugeschnittene Therapiekonzepte gibt es noch viel zu entdecken. Wenn heute beispielsweise jemand mit einer Psychose oder Depression zu uns kommt, stehen uns wirksame Medikamente und Therapien zur Verfügung, aber noch keine personalisierte Medizin. Wir können aufgrund der klinischen Präsentation oder anderen Merkmalen noch nicht vorhersehen, welche Behandlung für den einzelnen Menschen Vorteile bietet. Da kann viel Zeit verloren gehen.
Sautner: Wenn immer mehr Menschen an den gesellschaftlichen Umständen krank werden, kann die Lösung nicht sein, immer mehr Medikamente und Therapien anzubieten. Dann müssen sich die gesellschaftlichen Umstände ändern.
Höflich: Ein positives Schaffen im Kleinen kann Unglaubliches bewirken. Wenn sich Menschen mit anderen zusammenschließen und versuchen, etwas zu ändern, kommen sie aus der Hilflosigkeit heraus.
Astrid Kuffner, Nina Schedlmayer