Teile und herrsche: Das scheint das Motto von Herrn Bescheder zu sein. In seinem Erntebetrieb, in dem er Saisonarbeiter*innen, vor allem aus dem Osten Europas, beschäftigt, soll in Listen vermerkt werden, „wer schlecht gearbeitet hat.“ An Mittwochnachmittagen dürfen einige freinehmen – aber nur jene, die aus Westeuropa kommen, älter oder arbeitsunfähig sind. Die Schriftstellerin Lorena Simmel erzählt in ihrem Erstlingsroman „Ferymont“ die Geschichte einer Studentin, die zwecks Geldverdienens aus Berlin in die Schweiz zurückgeht. Im titelgebenden Ort, in dem sie aufgewachsen ist, verrichtet sie Erntearbeit. Dabei freundet sie sich mit jenen an, deren Arbeit Europa mit Obst, Gemüse und Fleisch ernährt, darunter eine Moldawierin namens Daria: eine starke Persönlichkeit, die sich weigert, ihre Kolleg*innen zu verpfeifen. Die Solidarität zwischen den Ausgebeuteten zeichnet Lorena Simmel, die bei den Europäischen Literaturtagen gastiert, gegenläufig zu den harten und unmenschlichen Arbeitsbedingungen.
Kuratierter Blick
Lorena Simmel, geboren 1988 im Schweizer Freiburg, lebt heute in Berlin. Zuvor studierte sie Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel/Bienne sowie Europäische Literaturen an der Humboldt-Universität zu Berlin und in Warschau. Über „Ferymont“ erzählt sie im Gespräch mit ask – art & science krems: „Ich habe versucht, die Art und Weise einzufangen, wie Solidarität entsteht.“
Zunächst wollte sie die Geschichte aus der Perspektive einer Gastarbeiterin oder eines Gastarbeiters erzählen. „Das war aber nicht authentisch. Daher entschied ich mich für die Ich-Erzählerin.“ Sie spricht von einem „kuratierten Blick“, den sie einnehme. In ihrer klaren Sprache schildert sie sehr genau die Abläufe, die bei der Arbeit anfallen. Bisweilen kann das auch ziemlich unangenehm werden. Gegen Ende des Buches, als die Ich-Erzählerin ihre Leser*innen in eine Hühnerfarm führt, heißt es etwa: „Ich konnte erkennen, dass wir uns ins Innere der Halle über einen Teppich aus Fäkalien, Federn und Einstreu bewegten. Mein Herz klopfte mir bis unter die Schädeldecke, mein Magen wankte. Neben mir tasteten die anderen sich ebenso wie ich vorsichtig voran.“
Plötzliches Unglück
Als auf Seite 129 plötzlich das Unglück geschieht, kommt es lapidar und wie ein Schlag in die Magengrube: „Daria starb am 15. September, einem Donnerstag.“ Grund dafür ist ein Herz-Kreislauf-Versagen nach einem Ohnmachtsanfall in dem stickigen Tunnel über dem Erdbeerfeld. War Lorena Simmel von vornherein klar, dass Daria sterben würde? „Nein. Aber sie hatte von Anfang an etwas Schwebendes, Surreales, ein bisschen wie ein Engel. Der Text, der rückblickend erzählt wird, fragt, was in dieser Saison eigentlich passiert ist. Er ist wie eine Art Trauer über Darias Tod,“ sagt sie. „Und es wird auch die Ungerechtigkeit zu Ende erzählt, das Ungleichgewicht zwischen der Ich-Erzählerin und Daria.“ Erstere kann schließlich jederzeit in ihr Berliner Leben zurück oder jedenfalls in die Villa ihrer Tante.
Wie ihre Ich-Erzählerin ist auch Lorena Simmel selbst in einem Schweizer Dorf aufgewachsen und lebt heute in Berlin. Ihren Job bei der Deutschen Presse-Agentur – Redaktions- und Korrekturtätigkeiten – konnte sie mittlerweile aufgeben. Aktuell arbeitet sie an einem Lyrikband, mit Unterstützung eines Stipendiums der Stiftung Pro Helvetia. „Dann möchte ich wieder einen Roman schreiben. Ich mache aber erst Skizzen dafür, habe vorerst nur vage Ideen.“
Hin und Her
Mit ihrem aktuellen Roman trifft sie das Thema der diesjährigen Europäischen Literaturtage, die diesmal das Verhältnis zwischen Stadt und Land beleuchten. „Zerschnittene Welt. Stadt & Land“, so lautet das Motto. Ist die Welt tatsächlich zerschnitten zwischen dem Ruralen und dem Urbanen? Lorena Simmel antwortet: „Das sehe ich nicht so. Sondern eher, dass der Austausch zwischen Stadt und Land ständig stattfindet. In Berlin beispielsweise setzt man sich intensiv mit dem auseinander, was in den ländlichen Regionen in den neuen Bundesländern passiert.“ Und gerade wenn man wie sie auf dem Dorf aufwachse, messe man ständig die Entfernung zur nächsten Stadt, zum nächsten Zentrum. Das Verhältnis zwischen Stadt und Land sieht sie daher „eher als Kontinuum, als Hin und Her.“
Ihr erster Roman brachte Lorena Simmel gleich den renommierten Robert-Walser-Preis ein, eine Auszeichnung für literarische Erstlingswerke, der nur alle zwei Jahre verliehen wird. „Lorena Simmel schreibt einen leise vibrierenden, scharf beobachtenden Roman, der die Ökonomie der Gefühle stets im Blick behält. Aufmerksamkeit, Informiertheit, Neugierde, Geduld und vor allem stilistische Sorgfalt treten an die Stelle von Pathos“, hieß es in der Jurybegründung. „In der landwirtschaftlichen Saisonarbeit kommt dabei ein nach wie vor nur selten beleuchteter Themenkomplex zur Sprache. Als träten mit jeder Figur, jedem Stimmungsbild und jeder erzählten Erfahrung unbehandelte Sedimente einer kulturellen Landschaft zutage, die ebenso historisch wie aktuell ist.“
Nina Schedlmayer