Eine Lesung aus ihrem 2024 erschienenen Buch „Alles kann, nichts läuft. Warum wir immer weniger Sex haben.“ hat an der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften noch nicht stattgefunden. Aber das kann ja noch kommen. Juliane Burghardt hat ein gleichzeitig aufklärendes, humorvolles und fundiertes Werk vorgelegt. Sex als Forschungsthema ist schwierig: wissenschaftstheoretisch, aber auch zwischenmenschlich. Das ist der Psychologin sonnenklar. Warum forscht sie dennoch dazu? Es ist ein fundamental menschliches Thema, und repräsentative Umfragen zeigen, dass Menschen in Deutschland und Österreich heute weniger Sex haben: „Das ist interessant vor dem Hintergrund, dass wir in einer Gesellschaft leben, wo wir problemlos Sex haben können, sogar Apps entwickeln, die uns das jederzeit ermöglichen.“ Burghardt, zuletzt Fellow der Alexander-von-Humboldt Stiftung an der University of California in Davis und der Universität Hamburg, wechselte im Juni 2020 an die Karl Landsteiner Privatuniversität, wo sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich klinische Psychologie tätig ist.
In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit den Unterschieden zwischen Männern und Frauen. Ausgangspunkt dafür waren eigene Erfahrungen im universitären Arbeitsumfeld, wo sie als weibliche Mitarbeiterin anders behandelt wurde, als männliche Kollegen (dazu hat sie das Buch „Arbeitsplatz Wissenschaft: Zwischen Mythos und Realität“ geschrieben). Auch die Entscheidung fürs Psychologiestudium wurzelt bei Juliane Burghardt in einem Schüsselerlebnis. Aufgewachsen in der Universitätsstadt Greifswald wurde sie als Jugendliche für eine Studie intensiv getestet und befragt: „Die Psychologin, die das mit mir gemacht hat, war sehr nett und ich dachte mir: Das sollte ich auch machen.“
Die Grenzen der Wissenschaft
Zu Beginn des Buches nimmt sie die Grenzen des Erforschbaren und Belegbaren in den Fokus. Wichtig gerade in Österreich, wo Wissenschaftsskepsis verbreitet ist. Wie erforscht sie ein Tabuthema? Und wie dröselt sie das haarige Feld von Einzelfällen versus systematischer (Un)gleichbehandlung von Männern und Frauen auf? „Ich arbeite experimentell und erzeuge künstliches Material, etwa Lebensläufe. Ich entwerfe also fiktive Männer und Frauen, um die Kontrolle zu haben. Dieses Material lege ich Menschen vor und bitte sie, Entscheidungen zu treffen oder auf einer Skala zu bewerten. Anonymität hilft dabei, ehrliche Antworten zu bekommen. Probleme macht das echte Leben, wo wir biologische Unterschiede, Erfahrungen, Lebenswelten und so fort nicht sauber herausfiltern können.“
Sex als Forschungsthema trat 2016 in ihr Leben. Ihr Vorgesetzter an der Universitätsmedizin Mainz hatte aktuelle, anonyme, sehr gute, weil repräsentative Daten aus Deutschland (mehr als 2000 befragte Personen) vorliegen. In der psychologischen Forschung immer attraktiv. Die Alternative wäre das Thema Intimrasur gewesen, sagt Juliane Burghardt, und ihr Sinn für Humor blitzt einmal mehr durch. Auch für den Wechsel nach Krems war die Maxime „Follow the Data“ für Juliane Burghardt entscheidend, hat die Privatuni doch mit dem Psychosomatischen Zentrum Waldviertel kooperiert. Dort werden Erwachsene aller Altersgruppen z.B. mit Depressionen, Angst-, Ess- oder Persönlichkeitsstörungen sowie Traumata interdisziplinär behandelt. Dort hat sie etwa zur Verknüpfung von Therapiewirksamkeit und „Theory of Mind“ gearbeitet. Es handelt sich dabei um eine grundlegende und gleichzeitig komplexe menschliche Fähigkeit. Zu wissen, was andere Menschen über die Welt wissen und was sie brauchen, ermöglicht uns als soziale Wesen in Gruppen zu funktionieren: „Es ist eine grundlegende Fähigkeit, die den Menschen ausmacht, bei psychischen Erkrankungen aber oft gestört ist.“
Weniger Verbindung trotz ständiger Erreichbarkeit
Doch zurück zum Sex. Die US-Psychologin Jean Twenge hat das Smartphone und neue digitale Medien als Grund ins Treffen geführt, warum Menschen heute weniger Sex haben. 2020 bot ein Call der Gesellschaft für Forschungsförderung des Landes Niederösterreich (GFFNÖ) die Möglichkeit dazu, repräsentative Daten für Österreich zu erheben. Burghardt reichte das Projekt „Einflussfaktoren auf die Häufigkeit von sexueller Aktivität“ ein, das noch bis Ende 2025 läuft. Das Buch hat sie 2023 verfasst, „weil ich mich für fast alles interessiere, was den Menschen betrifft. Zudem merke ich mir glücklicherweise fast alles, was ich zu einem Thema gelesen habe“. Hier ist zu wenig Platz für Details, daher einfach noch eine Leseempfehlung für „Alles kann, nichts läuft“.
Fürs Stammbuch sei aber festgehalten: Wenn wir über das Handy kommunizieren, gehen viele Informationen – etwa Mimik, Gestik oder Stimmlage – verloren: „Wir sind sehr gut darin, aus der Stimme Gefühle herauszuhören und schreiben uns dennoch ständig Textnachrichten. Es ist mir ein Rätsel“, so Burghardt. Zudem gibt es etliche Studien, wie gesund Berührungen für Menschen sind. Das Handy lenkt uns oft von den Menschen ab, mit denen wir gerade zusammen sind. Die bevorzugte Rangfolge wäre jedenfalls: Lieber am Handy mit anderen Menschen, als allein. Besser im persönlichen Kontakt oder in einer Umarmung, als am Handy. Soziale Medien machen uns sichtlich weniger gut verbunden. Die nachweisliche Abnahme der Sexualität ist ein Symptom, der sprichwörtliche Kanarienvogel in der Kohlemine, dass wir unser Grundbedürfnis nach Beziehung nicht befriedigen.
Laut Evolutionspsychologie sind Frauen der bestimmende Faktor bei der Frage „Sex ja oder nein?“. Sie mussten immer stärker auswählen, da sie im Fall von Nachkommen auch mehr investieren – die Kultur hat das verändert – Emanzipation und Evolution sind besser trennbar. Frauen sind heute nicht mehr so abhängig davon, Sex für eine stabile Paarbeziehung und finanzielle Absicherung zu tauschen. Spaß am Sex bliebe ein guter Grund, um Sex zu haben. Untersuchungen zeigen aber, dass Frauen weniger Spaß an „Küssen-umarmen-Penetration-fertig“ haben als Männer. Die gute Nachricht: Wir haben es in der Hand. Ein guter Anfang wäre wohl: mehr zuhören, mehr ausprobieren und mehr fordern. Die Literatur zeigt, dass nicht-heterosexuelle Menschen besser darin sind, über Sexualität zu kommunizieren und diese auszuhandeln. Bei der repräsentativen Online-Befragung (2000 Personen) im Rahmen des GFFNÖ-Projekts definierten sich außerdem rund 30 Menschen als asexuell. Einige von ihnen gaben dennoch an, dass sie gerne mehr Sex hätten. Juliane Burghardt: „Es gibt dieses Berührungsproblem. In jedem Gespräch, wo sich jemand schwer damit tut, merke ich: Da muss noch mehr gemacht werden.“
Astrid Kuffner