Viele Hände & Hirne für ein jungsteinzeitliches Rätsel

Mit rund 30 erwachsenen und 36 jungen Citizen Scientists aus der Umgebung kommt ein Team um Jakob Maurer vom Zentrum für Museale Sammlungswissenschaften bei der Erforschung des „Massakers von Schletz“ einen großen Schritt voran.
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United by crisis

„Das menschliche Skelett ist ein tolles Archiv“, betont Jakob Maurer, Leiter des Projekts „United by Crisis?“, das von der Gesellschaft für Forschungsförderung Niederösterreich gefördert wird. Im Fall der jungsteinzeitlichen befestigten Siedlung von Schletz auf einem langgestreckten Hügel westlich der Marktgemeinde Asparn gibt dieses Knochenarchiv Hinweise auf den gewaltsamen Tod von wohl mehreren hundert jungsteinzeitlichen Menschen, gestorben vermutlich bei einem Einzelereignis um 5000 vor Christus, einer Zeit, in der sich im Weinviertel zahlreiche frühbäuerliche Siedlungen nachweisen lassen. Etliche neolithische Skelettreste weisen zudem Mangelerscheinungen auf. Maurer und Archäolog*innen am Zentrum für Museale Sammlungswissenschaften gehen derzeit davon aus, dass Schletz vor 7000 Jahren ein Zentralort für umliegende Siedlungen war, an dem auch Rohstoffe von weit entfernten Orten getauscht wurden, vielleicht wichtige den Siedlungsverband betreffende Entscheidungen getroffen wurden und im Bedarfsfall auch Schutz gesucht wurde, denn die Siedlung wurde mit drei aufwändigen Grabenanlagen befestigt. Dabei haben unter Umständen Bewohner*innen der umliegenden Siedlungen zusammengearbeitet. Trotz dieser Gräben wurde die Siedlung zum Tatort, so die gängige These, nämlich dem „Massaker von Schletz“. 

„Das menschliche Skelett ist ein tolles Archiv“, betont Jakob Maurer, Leiter des Projekts „United by Crisis?“, das von der Gesellschaft für Forschungsförderung Niederösterreich gefördert wird.

Zwischen 1983 und 2005 wurden viele Funde und Strukturen ausgegraben und dokumentiert, doch ihre Geheimnisse haben sie noch nicht alle preisgegeben. Mit „United by Crisis?“ macht ein Forschungskonsortium in der Auswertung einen großen Schritt nach vorne. Beteiligt sind neben der Universität für Weiterbildung Krems die Montanuniversität Leoben, das Institut für Bodenforschung Tulln der Universität für Bodenkultur, Anthropologin Maria Teschler-Nicola vom Naturhistorischen Museum, zwei Klassen der Mittelschule Asparn (über drei Jahre) sowie 30 Freiwillige aus der Umgebung unter Leitung von Julia Längauer vom Zentrum für Museale Sammlungswissenschaften. Es ist etwas über der Halbzeit des Vorhabens, in dem Citizen Scientists unterschiedlichen Alters integriert, geschult, begeistert und unerlässlich geworden sind. Zwei Fragen sollen beantwortet werden: Sind die Gewaltopfer in der Umgebung aufgewachsen? Und: Wie viele Siedlungen umgaben Schletz als angenommenes Zentrum, wie entwickelte sich die Siedlungskammer im Lauf von 400 Jahren? Schletz und Umgebung stehen als Fundorte exemplarisch für die sogenannte Linearbandkeramische Kultur, die anhand der typischen Muster auf 5500 bis 4900 vor Christus datiert wird. Sie erstreckte sich in ihrer Hochphase von der Ukraine bis ins Pariser Becken. Was für Aufstieg und Fall dieser Kultur ausschlaggebend war, darüber wird in Fachkreisen intensiv diskutiert.

Medaille

Systematische Begehung und Dokumentation

„Viele Leute sind überrascht, dass es in ihrer Umgebung archäologische Funde gibt. Tatsächlich ist das Weinviertel gerade für die Jungsteinzeit sehr ergiebig“, so Julia Längauer. Auf den Projektaufruf hin haben sich mehr als 100 Freiwillige für Begehungen gemeldet. Längauer schreibt ihre Dissertation über Fundstellen im Umfeld von Schletz und betreut das Team von 30 erwachsenen Hilfsarchäolog*innen. Sie hält Kontakt zu lokalen Landwirt*innen, um deren Zustimmung bzw. den idealen Termin einzuholen. Für die Begehungen müssen die Felder frei von Bewuchs sein. Die Freiwilligen wurden eingeschult und gehen in betreuten Teams systematisch in Linien über Felder im Umkreis von 15 Kilometern, um etwaige durchs Pflügen freigelegene Funde aus der Bandkeramikzeit zu sammeln und zu dokumentieren, zu reinigen und in eine Datenbank einzugeben. So viele helfende Hände und Hirne sind absoluter Luxus für die Forschung. Manche Citizen Scientists aus der Umgebung hatten schon Großväter und Großmütter, die uralte Scherben, Klingen und Werkzeuge aus dem Ackerboden klaubten. Diese privaten Sammlungen werden in die Forschungen miteinbezogen.

Fundstücke United by crisis
Manche Citizen Scientists aus der Umgebung hatten schon Großväter und Großmütter, die uralte Scherben, Klingen und Werkzeuge aus dem Ackerboden klaubten. Diese privaten Sammlungen werden in die Forschungen miteinbezogen.

Eine geochemische Umgebungskarte

Die Schüler und Schülerinnen der Mittelschule Asparn, heute genau im Einzugsgebiet der damaligen Siedlung Schletz zuhause, haben das Projekt über drei Jahre begleitet und wurden begleitet – mit besonderem Fokus auf MINT-Fächer und Mädchen. Sie haben passend zum Unterrichtsstoff viel über Geschichte, angewandte Chemie, die Durchführung wissenschaftlicher Forschung und Interpretation wissenschaftlicher Daten gelernt. Mehr als 100 Bodenproben haben sie in ihren Heimatgemeinden genommen und aufbereitet, um eine geochemische Landkarte der Region zu erstellen – unterstützt vom Team der BOKU. Die Zahnproben und Bodenproben werden nun an der Montanuni Leoben analysiert. „Menschen, die in einer Region aufgewachsen sind und regionale Lebensmittel gegessen haben, tragen eine typische geochemische Signatur in ihrem Zahnschmelz, und diese überdauert in Funden tausende Jahre“, so Jakob Maurer. Abweichende Signale deuten darauf hin, dass die Toten aus einer anderen Region kamen. Dies ist z.B. manchmal bei Frauen nachweisbar, die in eine andere Gruppe einheirateten.

Erklärvideo Funstelle Asparn-Schletzt Schulzentrum Apsarn
Die Schüler und Schülerinnen der Mittelschule Asparn, heute genau im Einzugsgebiet der damaligen Siedlung Schletz zuhause, haben das Projekt über drei Jahre begleitet und wurden begleitet – mit besonderem Fokus auf MINT-Fächer und Mädchen.

Neue Erkenntnisse sind nie auszuschließen, und jeder Puzzlestein ist hilfreich. Für die Urgeschichte werden manche Fragen mangels überlieferten Materials nie abschließend beantwortet werden können. Gab es eine Nahrungskrise? Was passierte nach dem Zusammenbruch der Zentralsiedlung mit umliegenden Einzelhöfen und Häusergruppen? An mehreren Fundstellen in der Umgebung wurden Gewaltspuren an Skeletten gefunden, was auf eine Krise hindeuten könnte. Vielleicht ist damals eine zunächst wachsende Gesellschaft gerade zusammengebrochen.

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2 Antworten

  1. Großartiges Projekt – in allen Aspekten, vorweg, was die citizen scientist betrifft! Das wird in Zukunft überall praktiziert werden und allerbeste.Forschungsergebnisse erbringen. Von den fantastischen Möglichkeiten im interdisziplinären Forschen generell natürlich ohnehin ganz zu.schweigen! Chapeau!!

    1. Lieber Herr Krisch,
      vielen Dank für Ihren Kommentar! Wir sind auch ganz begeistert von diesem Projekt!
      Liebe Grüße,
      das ask-Team

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Tipp: Ein Teil der Funde aus Schletz ist im Urgeschichtemuseum MAMUZ in Asparn an der Zaya ausgestellt. Ein Blog begleitet das Forschungsprojekt https://www.united-by-crisis.at/aktuelle-news

Citizen Science (Wikipedia)
Mit Citizen Science (auch Bürgerwissenschaft
oder Bürgerforschung) werden Methoden und Fachgebiete der Wissenschaft bezeichnet, bei denen Forschungsprojekte unter Mithilfe von oder komplett durch interessierte Laien durchgeführt werden. Sie formulieren Forschungsfragen, recherchieren, melden Beobachtungen, führen Messungen durch, publizieren oder werten Daten aus.

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