Eine Jahreszahl für die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Sprachenlernen in Österreichs Klassenzimmern kann Beatrice Müller nicht nennen. Die Koordinatorin für sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit an der KPH Wien/Niederösterreich beschäftigt die Frage täglich: im Feld zwischen Wissenschaft und pädagogischer Praxis, in Forschung und Lehre für sprachliche Bildung und das Fach Deutsch als Zweitsprache, im Rahmen der Fort- und Weiterbildung an der Kirchlich Pädagogischen Hochschule und der Ausbildung von Lehrkräften an der Universität Wien. Eine Antwort kann sie aus der pädagogischen Perspektive anhand forschungsgeleiteter Erkenntnisse gar nicht geben, weil es eine politische Frage ist
Beim diesjährigen Kremser Bildungstag am 5. Mai wird Müller eine Keynote zum Thema „Mehrsprachigkeit als Chance“ halten: „Sprachenlernen ist individuell, es ist komplex und es braucht Zeit. Das ist unser mehrfach belegter Wissensstand. Als Gesellschaft brauchen wir schon heute mehrsprachige Schüler*innen und Lehrkräfte, weil die Welt so ist, wie sie ist. Aber der Lernort Schule funktioniert in dieser Hinsicht viel zu wenig. Wenn Spracherwerb nicht von der Erstsprache Deutsch erfolgt, wird er nicht unterstützt. Er wird durch strukturelle Bedingungen sogar erschwert.“
Während wir diese Botschaft sickern lassen, zeichnet die Forscherin ein anschauliches Bild, warum tiefgreifende Veränderungen im Schulsystem so schwierig sind: „Stellen Sie sich eine stark befahrene Brücke an einem Knotenpunkt einer Stadt vor. Alle wissen, sie muss modernisiert werden, weil sie sonst zusammenbricht. Der Umbau müsste stattfinden, während sie weiter täglich von allen genutzt wird. Der Verkehr kann nicht umgeleitet werden, alle sind auf diese Brücke angewiesen.“ So ist es mit Veränderungen in der Schule: Sie sind gleichzeitig notwendig und extrem herausfordernd. Zusätzlich fehlt die politische Bereitschaft, tiefgreifende Reformen anzugehen, statt weiter an kleinen Stellschrauben zu drehen.

Die Frage davor
Worüber sprechen, wenn wir in Österreich über Bildung sprechen? Bei den Regierungsverhandlungen und vor der Wien-Wahl war das Thema Bildung in allen Wahlwerbungen und Programmen sehr präsent. In Wirklichkeit geht es aber nur ums Deutschlernen und die Deutschförderung. Um jeden Preis, möchte man ergänzen.
Deutschlernen ist unbestritten wichtig, aber nicht alles. Für die Zukunft des Landes bräuchten wir viele, selbstverständlich mehrsprachige Menschen, als Bindeglieder z.B. in Nachbarländer, die firm und verhandlungssicher in Deutsch und Bosnisch/Kroatisch/Mazedonisch/Serbisch sind oder in Türkisch. Diese Stärkung findet an Schulen aktuell fast nicht statt. Ein Schelm wer denkt, dass das mit der allgemein schlechten Repräsentation junger Menschen in Gesellschaft und Politik zu tun hat.
In der Gegenwart einer Migrationsgesellschaft, war das heimische Schulsystem in den vergangenen zehn Jahren von außen zusätzlich gefordert. Es waren sehr viele Kinder und Jugendliche zu integrieren, zum Teil nicht alphabetisiert, ohne gefestigte Erstsprache, entwurzelt und mit schlimmen Erfahrungen. „Aus der Wissenschaft wissen wir, wie wir Lernprozesse am besten unterstützen: Es braucht interessensgeleitete Angebote für nachhaltiges Lernen, es muss den Kindern und Jugendlichen klar sein, warum sie sich so plagen. Gerade Sprachenlernen braucht Zeit für Festigung, braucht Übungsphasen und gelingt besser, wenn man sich lustvoll ausprobieren darf.“ In Österreich sind diese Möglichkeiten nicht systemisch verankert, sondern hängen von individuellen Lehrkräften ab. Deutschpflicht in der Pause, Deutschförderklassen statt Sprachbad, Brennpunktschulen und Elitegymnasien, schwierige Entscheidungen mit zehn Jahren, wenig Assistenzpersonal, aber laufende Testungen, Druck, Zwang und dicke Lehrpläne – so ist Schule in Österreich in a nutshell.

Was tun?
Beatrice Müller nennt vier wissenschaftlich fundierte Hebel, wie es besser klappen könnte. Punkt eins wäre für sie: „Die Lehrpläne entschlacken, da könnte direkt politisch angesetzt werden. In den letzten fünf Jahren haben sich die Inhalte verdoppelt – das ist viel zuviel.“ Heute spielt vor allem Fachwissen eine Rolle, nicht mehr alles zu wissen. Wir brauchen viel mehr Strategien, um gesichertes Wissen zu finden, wenn wir es brauchen. Basale Bildung mit lesen, schreiben, rechnen, Grundzügen naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Denkens – schon das klappt oft genug nicht: „Die Idee, dass alle zur selben Zeit alles lernen müssen, widerspricht allen Erkenntnissen über das Lernen. Der zentrale Lernort, die Schule, funktioniert aber noch immer so.“ Jede:r Wissensarbeiter:in würde sich gegen diese Bedingungen wehren: alle 50 Minuten ein neues Fach, vielleicht eine andere Lehrkraft.
In guten Schulen schaffen es Lehrkräfte, die Lehrpläne der Fächer miteinander abzugleichen. Aber alle stehen unter Zugzwang, weil sonst zentrale Tests, die Zentralmatura zuallerletzt, nicht erfolgreich abgeschlossen werden können. Also müssten als zweiter Hebel Lehrkräfte gestärkt werden, um zu gestalten. Und dann auch gleich noch die Menschen, um die es geht: „Wir müssen viel mehr hinhören, was Kinder und Jugendliche brauchen. Die sind ja klug und verantwortungsbewusst, sie haben Sorgen und brauchen Begleitung. Sie werden aber so gut wie nicht gefragt.“ Das gleiche gilt für wertschätzende Elternarbeit.
Gesamtschule wirkt
Viele Jahre waren Länder im Norden Europas Vorbilder für Bildungsgerechtigkeit, aber auch hier wurde inzwischen abgebaut. Es gibt ein paar schlicht wirkende Ansätze, die auch unter verschärften Bedingungen funktionieren können: „Wenn wir in Österreich eines Tages eine echte Gesamtschule haben, gebe ich einen aus. Wir sehen in Schulversuchen, dass das funktioniert. Mehr Zeit geben bedeutet auch, dass besser darauf geachtet werden kann, wann, wie und was gelernt wird.“ Das bedeutet nicht die Kinderlein nur spielen zu lassen. Es bedeutet Lernfenster zu nutzen, auf Bereitschaft und individuelle Aufnahmefähigkeit einzugehen und sie individuell zu begleiten. Bildungsmöglichkeiten braucht es sicher über die Pflichtschulzeit oder den 18. Geburtstag hinaus – und sie enden nicht am Schultor: „Eine Masterstudentin von mir hat die kostenlose und freiwillige Parkbetreuung in Wien in Hinblick auf Spracherwerb untersucht – und sie wirkt. Auch Deutschlernen im Fußballkäfig ist denkbar, als Gelegenheit und Anreiz statt mit Zwang und Verpflichtung“.

Mehrsprachigkeit gehört zur Identität
Die allermeisten Eltern und Kinder wollen Deutsch lernen und Bildungserfolg haben. Aber viele sind verunsichert und sprachlos. Beatrice Müller zitiert Toxische Pommes. In „Ein schönes Ausländerkind“ schreibt sie: „Ich habe Österreich gewonnen, aber meinen Vater verloren“. Er ist nie angekommen, trotz heißem Bemühen und sprach irgendwann gar nicht mehr. Mama lernt Deutsch-Kurse, kostenfreie Lesungen in öffentlichen Bibliotheken, Lesepat:innen, Park- und Ferienbetreuung – es gibt diese Angebote. Aber wer erfragt, warum sie vielleicht nicht genutzt werden (können)?
Aktuell können Kinder und Jugendliche zwei Jahre als außerordentliche Schüler*innen geführt werden, mit separierter Deutschförderung. Es ist aber erwiesen, dass es fünf bis sieben Jahre braucht, das sprachliche Niveau für Bildungserfolg zu erreichen. Auch in Mathematik, Turnen, Geschichte und Geografie „können wir mit sprachsensiblem Fachunterricht ansetzen. Dazu brauchen wir Lehrkräfte, die auch Photosynthese oder Kurvendiskussionen in anderen Sprachen erklären können und die bereits in der Ausbildung für die Sprachenentwicklung von Kindern und Jugendlichen qualifiziert werden.“ Viele Pädagog*innen bilden sich bereits heute aus Eigeninitiative weiter, um ihren Job auf der Brücke noch machen zu können.
Astrid Kuffner