Wie konnte es passieren, dass Menschen mit einem Job, der ab dem ersten Schrei bis zum letzten Seufzer unverzichtbar und dicht an unserer Lebensqualität dran ist, (zu)wenig gehört werden? Um aktuelle Entwicklungen zu verstehen, hilft auch der Blick zurück. Anja Kepplinger, die im September 2024 die Studiengangsleitung des Masterstudiengangs Advanced Nursing Practice (ANP) am IMC Krems übernommen hat, sieht unter anderem historische Anknüpfungspunkte.
Das Bild der Pflege ist eng verknüpft mit dem allgemeinen Ansehen von Frauen und ihren traditionellen Berufen in der Gesellschaft. So wird Pflege gerne weiterhin als dienende Rolle begriffen, die Ärzten (später auch Ärztinnen) assistiert. Zudem bräuchte es erst eine eigene Berufsvertretung, die den bunten Pflege-Versorgungsteppich mit all seinen Einsatzorten und Qualifikationsstufen gemeinsam voranbringt.
Das traditionell verankerte Rollenverständnis der „Krankenschwester“, die primär als helfende Hand wahrgenommen wird, die bei medizinischen Tätigkeiten unterstützt und Fehler unauffällig korrigiert, muss ad acta gelegt werden. Diese Transformation des Berufsbildes erfordert nicht nur fachliche Kompetenzen, die durch eine akademische Ausbildung erworben werden, sondern auch eine entsprechende professionelle Haltung: „Damit Pflegepersonen im Unternehmen ihre Stimme einbringen können, braucht es geeignete Rahmenbedingungen. Dazu gehört die Fähigkeit der Pflegepersonen, ihre Anliegen klar zu formulieren, und ebenso die Kompetenz der Führungskräfte, diese Stimmen aktiv wahrzunehmen und sinnvoll einzubeziehen“, so Kepplinger.

Nurses sind Fachkräfte
Im angloamerikanischen Raum wird ein*e Nurse bereits als hochqualifizierte Fachkraft wahrgenommen, von der man erwartet, dass sie sich einbringt und die man anhört, um die Patient*innenversorgung bestmöglich zu gewährleisten. Diese Fachkräfte agieren nicht lediglich als ausführendes Personal „am Bett“, sondern als essenzielle Akteur*innen. Das Ziel der Leitungen liegt darin, „frontline nurses“ aktiv zu unterstützen, indem sie deren Autonomie, professionelle Entwicklung und Mitsprache fördern, um eine optimale Patient*innenversorgung sicherzustellen.
Eine Advanced Practice Nurse, wie sie als Berufsbild im Studiengang vermittelt wird, übernimmt in ihrem jeweiligen Spezialgebiet die direkte Versorgung von Patient*innen in komplexen Fällen und verbindet dabei Praxis, aktuelle wissenschaftliche Forschung und theoretisches Wissen. Mit dieser weltweit etablierten spezialisierten Pflegerolle auf Master- und Doktoratsebene wird der Kompetenzbereich der Gesundheits- und Krankenpflege vertieft und die damit verbundenen Aufgaben und Einsatzmöglichkeiten erweitert. Advanced Practice Nurses sind international auch als Nurse Practitioner oder Clinical Nurse Specialist, bezeichnet und bereits etabliert. Sie sind in komplexen und herausfordernden Situationen, wie etwa bei chronischen Wunden, häufigen Wiederaufnahmen, multimorbiden Personen oder in der Gesundheitsförderung und Prävention aktiv und tragen durch ihre fortgeschrittene Fachkompetenz zur Verbesserung und Weiterentwicklung der Versorgung bei.

Praxisnähe und Forschung
Anja Kepplinger hat nach ihrem Gesundheits- und Krankenpflege-Diplom und während der Tätigkeit auf einer Intensivstation selbst die ANP-Ausbildung mit Bachelor und Masterstudium am IMC Krems berufsbegleitend absolviert – Praxisnähe ist also in jeder Hinsicht gegeben. In ihrer neuen Position möchte sie Innovation und wissenschaftlichen Austausch fördern, während sie Studierende unterstützt, Pflegeentwicklung aktiv mitzugestalten. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit der Mitarbeiter*innenbeteiligung in der Langzeitpflege und beleuchtet unter den Gesichtspunkten der Institutions- und Professionslogiken folgende Fragen: Wie unterstützt die Nutzung eines digitalen Sprachkanals die Möglichkeiten, das Verhalten der Mitarbeiter*innenstimme in der Langzeitpflege zu adressieren?
Für Anja Kepplinger müsste es über die Hierarchie hinweg immer möglich sein, seine Stimme zu erheben, weil Menschen Fehler machen. Der Patient*innensicherheit wäre gedient, wenn eine Praktikant*in einen Fehler von Professor*innen sieht und „Stopp“ sagt. Der andere wichtige Part ist die Mitbestimmung im Unternehmen. Kepplingers erklärtes Ziel ist es, ANP-Pflegeexpert*innen in Österreich zu etablieren, die sich nicht scheuen, ihre Stimme aktiv gestaltend in der Gesundheitsversorgung einzubringen. Viele Stimmen zum Thema gibt es übrigens bereits jetzt im Podcast Voices of APN‘s zu hören

Noch zu häufig werden in Spitälern etliche Aufgaben routinemäßig vom Pflegepersonal übernommen, für die es keine akademische Ausbildung bräuchte (z.B. Medikamente nach Ablaufdaten sortieren) und dieses unhinterfragt bei Abläufen eingesetzt, die nur mit Gewohnheit, nicht mit Kompetenzen oder Patient*innenzentrierung zu tun haben – das heißt Körperpflege von 7 bis 9 Uhr, dann mitgehen/mitschreiben bei der Visite. „Natürlich ist die gemeinsame Visite wichtig im Sinne der medizinisch-pflegerischen Abstimmung, aber nicht um Schreibaufgaben zu übernehmen.“
Es gibt viele Rädchen zum Drehen. Anja Kepplinger ist dran und tut es mit schier unerschöpflicher Energie. Dabei hilft ihr nach eigenen Angaben schwarzer Kaffee, Schwimmen und Rennradfahren als Ausgleich. Das Adressieren der Berufspolitik Vernetzung mit – Absolvent*innen und Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Fachbereiche, konkrete Befähigung in Workshops und Klinikbesuche gehören dazu.
Astrid Kuffner