Behutsam, bedankt und unverzichtbar

Was passiert, wenn man seinen Körper für Ausbildungszwecke zur Verfügung stellt? Johannes Streicher leitet seit 2015 den Lehrstuhl für Anatomie und Entwicklungsbiologie an der Karl Landsteiner Universität für Gesundheitswissenschaften und hat dort ein Körperspendewesen für Niederösterreich und Oberösterreich aufgebaut.
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Immer mehr Menschen sehen einen tieferen Sinn darin, mit dem Körper nach dem Tod die Ausbildung künftiger Ärzte und Ärztinnen zu unterstützen. Gleichzeitig können sie so für das eigene Ableben Vorsorge treffen. Davon ist Johannes Streicher, Professor für Anatomie und Entwicklungsbiologie an der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften, überzeugt: „Wir machen transparent, was nach dem Tod zu erwarten ist, gestalten einen würdigen Prozess, geben Einblick und planen aktiv Begegnungsmomente für potenzielle Spender*innen mit Studierenden und Lehrenden.“ Johannes Streicher hält den durch Körperspenden ermöglichten Erkenntnisgewinn für angehende Mediziner*innen für unersetzbar. 

Johannes Streicher, Professor für Anatomie und Entwicklungsbiologie an der Karl Landsteiner Privatuniversität, betont die Unersetzbarkeit von Körperspenden für die medizinische Ausbildung. Er schafft Transparenz über den Prozess, gestaltet diesen würdevoll und fördert Begegnungen zwischen Spender*innen, Studierenden und Lehrenden.

Erkenntnisgewinn in organischer Begegnung

Zwei Argumente führt der Anatomieprofessor ins Feld: „Keine Software kann naturgetreu einen liegenden Patienten in 3D simulieren. Auch wenn man virtuell vergrößern und hineinzoomen kann, bleibt jede Farbe und jedes Grafikdesign abstrahiert. Das Erarbeiten der Funktionsweise und der Zusammenhänge im menschlichen Körper in eigenständiger Präparation, ohne Virtual-Reality-Brille, bietet einen nachhaltigen Erkenntnisgewinn.“ Wie der Lernprozess gestaltet wird, davon wird noch die Rede sein.

Das andere Argument betrifft unsere Unterschiedlichkeit. Jedes Bild, jedes Modell und jede Visualisierung eines Körpers oder Organs muss sich am genormten Mittelwert und einem Idealbild orientieren. „Wir sagen den Studierenden immer, dass sie sich gegenseitig anschauen sollen. So verschieden wie sie von außen sind, können Menschen auch innerlich sein. Sie müssen im Sezierkurs ein Logbuch über Besonderheiten führen, die sie gefunden haben.“ Der Kurs im dritten Studienjahr dauert von Oktober bis Juni. Je sechs Studierende arbeiten in der Gruppe mit einem konservierten Körper. Sie sollen aber die einzelnen Körperspenden, deren Organe und Besonderheiten vergleichen, um Varianten zu erkennen.  Ein wichtiger Schritt, „um von der häufigsten Variante zum Individuum zu kommen, wie es später jede*r Patient*in sein wird“, so Streicher.

Keine Software kann die Realität eines menschlichen Körpers in 3D naturgetreu simulieren. Die eigenständige Präparation ermöglicht einen tiefgreifenden, nachhaltigen Erkenntnisgewinn, der virtuell nicht erreichbar ist.

Wann ist der richtige Zeitpunkt?

Es wurde eine Ansprechstelle eingerichtet, unter der man sich ab dem 50. Lebensjahr anmelden kann. Alles wird geregelt und vertraglich festgehalten. Am Anfang wird vereinbart, welche Angehörigen den freien Willen bezeugen können, den Körper nach dem Ableben zu spenden. Es ist geregelt, wer verständigt werden soll, wenn die Körperspenden nach dem Kurs kremiert und am Waldfriedhof St. Pölten in einem Ehrengrab beigesetzt werden. Oder ob jemandes Asche separat in einer Urne an eine vorab definierte Person übergegeben wird. Auf dem Spenderkärtchen mit Foto ist die Rufnummer für den Todesfall aufgedruckt. Alles Weitere wird von der Universität veranlasst.

Zudem wird mit der Vereinbarung ein Fragebogen zu Eingriffen und Erkrankungen verschickt. Die moderne Medizin entfernt zurecht viele Organe, die die Studierenden aber zu sehen bekommen sollten. Wesentlich für den Sezierkurs ist zu wissen, ob Blinddarm, Gebärmutter, Prostata oder Gallenblase noch vorhanden sind.

Das Körperspendewesen im Raum Niederösterreich wurde ab 2018 von Null aufgesetzt und der Bedarf an Körperspenden (20/Jahr) kann bereits gedeckt werden. Vereinbarungen ab dem Mindestalter gibt es sehr viele, „aber wir wünschen unseren Spender*innen natürlich, dass sie noch lange nicht bei uns eintreffen“, betont Professor Streicher. Auch interessant ist, wie die Körperspende haltbar gemacht werden kann. Den durchdringenden Formalingeruch im Anatomiesaal hat vielleicht manche*r noch in der Nase. Heute wird aus verschiedenen Gründen mit der Thiel’schen Fixierung gearbeitet, welche die Farben, die Konsistenz und Beweglichkeit der Gewebe möglichst lebensnah erhalten kann.

Nach dem Sezierkurs halten die Studierenden eine Zeremonie, um sich respektvoll von den Körperspenden zu verabschieden. Dabei reflektieren sie über die Erkenntnisse zum Lebens- und Leidensweg der Spender*innen und nehmen symbolisch Abschied an der Traisen.

Eine langsame Annäherung

An die Begegnung mit dem Tod und den Spender*innen werden auch die Studierenden möglichst behutsam herangeführt. Es wird das Körperspendewesen erklärt und mit abgedeckten Körpern begonnen und das Benutzen der Instrumente erklärt. Nach und nach werden die emotional weniger besetzen Körperteile abgedeckt und zunächst oberflächlich inspiziert. Johannes Streicher: „Wir tasten uns heran mit den Augen und den Händen: Wie fühlt sich das an, wie sieht das aus und warum? Wir beobachten die Reaktionen und gewähren Abstand, besprechen und decken immer weiter ab, bevor wir die Integrität des Körpers angreifen“.

Rituale sind wichtig

Nach Abschluss des Sezierkurses gibt es unabhängig von den Veranstaltungen für Angehörige und Spender*innen eine Zeremonie nur mit den Studierenden. Es geht darum sich zu bedanken und Abschied zu nehmen von Körperspenden, mit denen man viele Monate verbracht hat. Es wird besprochen, welche Hinweise bei dieser zutiefst organischen Begegnung auf den Lebens- und Leidensweg der Person gefunden wurden. An der Traisen wird symbolisch Abschied genommen.

Die begleitenden Rituale, die Seelenmesse, eine Andacht mit Musik und gemeinsamer Agape, sind unabhängig von der Religion wichtig. Für Johannes Streicher sind sie so selbstverständlich, wie der Tod zum Leben dazu gehört. Die Körperspende, der Vertrag, die Trauerarbeit mit den Angehörigen, die Wertschätzung der Studierenden, das Teilnehmen an sichtbaren Momenten – alles gehört zusammen.

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2 Antworten

  1. Bitte nicht mit Sternchen gendern- es baut ganz unnötigerweise große Lese- und Verständnisbarrieren auf und widerspricht den Empfehlungen des Rats für Deutsche Rechtschreibung. Inklusion in der Sprache sollte auch sehbehinderte Menschen, denen der Stern tatsächlich als „Stern“ maschinell vorgelesen wird, und Menschen mit geringen Deutschkenntnissen berücksichtigen. Nur mehr wenige Veröffentlichungen gendern mit Stern, es gibt viele andere Möglichkeiten, beginnend bei der ganz einfachen „Beidnennung“.

    1. Vielen Dank für Ihre Nachricht. Wir haben uns nach längerer Überlegung für diese Schreibweise entschieden, weil sie alle Geschlechter abbildet. Unserer Meinung nach entspricht sie damit einer gendergerechten Sprache, wie sie auch Sprachwissenschaftlerinnen wie Luise F. Pusch fordern. Zudem hat sich diese Schreibweise mittlerweile in zahlreichen Publikationen durchgesetzt, sodass sie zunehmend Eingang in unsere Lesegewohnheiten findet.

      Mit herzlichen Grüßen

      Ihr Redaktionsteam

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