Wer von Wien auf der Autobahn nach Krems fährt, kann ihn nicht übersehen: den Kremser Donauhafen. Er zieht zwar nicht gerade Scharen von Spaziergänger*innen an. Aber wer Industrieromantik mag, findet visuelle Reize. Die Kräne, die wie riesige Wesen über der spiegelnden Wasserfläche wachen, die aufgeschütteten Haufen von unterschiedlichen Materialien: all das besitzt einen eigenen Charme. Für die Künstlerin Gabriele Engelhardt war der Donauhafen Krems einer der Gründe, sich beim Programm AIR – ARTISTS IN RESIDENCE NIEDERÖSTERREICH zu bewerben. Neben einem Stipendium umfasst es den Aufenthalt in einer Atelierwohnung auf der Kunstmeile Krems. 2022 verbrachte Gabriele Engelhardt dann zwei Monate in der Stadt. Nun stellt die 1967 geborene Deutsche ihre hier entstandenen Werke neben weiteren Arbeiten in der Kunsthalle Krems aus.

Umschlagplatz Hafen
Begonnen hatte es in der Stadt Kehl, in Baden-Württemberg. Dort gibt es eine große Stahlproduktion, die ihren Umschlagplatz am Hafen hat. Berge von Materialien werden dort täglich aufgeschüttet und abgetragen, ein ständiger Kreislauf. „Man findet dort alle Materialien, die der Stahlproduktion zugeordnet sind“, sagt Gabriele Engelhardt, in ihrer Kremser Ausstellung stehend. Angesichts dessen habe sich bei ihr „ein Schalter umgelegt: Ich sah nur mehr Berge.“ Die studierte Fotografin und Bildhauerin begann, diese aufzunehmen. Und zwar mit einer Unzahl von Bildern: Vor einem der Berge stehend, rückt sie die Kamera jeweils ein paar Zentimeter weiter, nimmt dabei jeweils einen kleinen Ausschnitt auf und setzt die Bilder – es können bis zu 1000 sein – am Computer zusammen. „Ich baue, ich knete sie zusammen“, sagt sie und macht dabei Handbewegungen, als würde sie einen Teig durchwalken. „Im Prinzip geht es um die Frage: Wie kann ich mit der Fotografie einen dreidimensionalen Eindruck erzielen?“ Die Bandbreite der Materialien, die sie in Kehl fotografierte – die Arbeiten sind in ihrer Ausstellung in der Kunsthalle zu sehen – ist beeindruckend: Schlacke, gemahlene Kohle, Streusalz und noch viel mehr fand sie vor.

Stanzabfälle und gescherter Grobschrott
In Krems angekommen, erarbeitete sie sich dann den Kremser Hafen. „Es gibt hier nur Metall“, erzählt sie. Vieles davon kommt aus der Automobilindustrie: Stanzabfälle etwa, die zu einem Haufen arrangiert sind. Mittlerweile ist Gabriele Engelhardt Spezialistin für Rohstoffe und kennt Ausdrücke wie „gescherter Stahlschrott“. Die „Kremser Berge“ sind ephemere Gebilde, die schon wenige Stunden später aufgelöst sind. Schwingen kunsthistorische Assoziationen mit – Monets „Heuhaufen“, Caravaggios Lichtführung, Caspar David Friedrichs Landschaftskompositionen – so bestechen diese Arbeiten durch ihre Detailfreude: Fast hineinkriechen könnte man in sie auf der Suche nach Schrauben oder Metallstückchen. In der jüngsten Publikation zu Gabriele Engelhardts Arbeiten („Gabriele Engelhardt. raw_material“) schreibt die Kultur- und Medienwissenschaftlerin Anett Holzheid, die Künstlerin schaffe eine „kaum zu überbietende skulpturale Plastizität einer höchst seltenen Bildlandschaft“.

Akkumulation von Rohstoffen
Unter „#raw_material“ fasst sie diesen Werkkomplex zusammen – ein Titel, der nicht nur auf die Rohheit der Materialien anspielt, sondern auch auf das digitale Bildformat „raw“. So bewegt sich diese Arbeit zwischen Fotografie, Bildhauerei – und Geopolitik. „Die dauerhafte Akkumulation von Rohstoffen entspringt dem Prinzip des Kapitalismus“, sagt Gabriele Engelhard. Im Donauhafen Krems findet er seinen Ausdruck. Und in ihrer Kunst seine Kritik.
