Immer wieder sticht die Nadel mit dem Faden in die Handfläche. Mit der Zeit entsteht ein Ornament. So sehr es weh tut, dem Prozess zuzusehen: Der Blick lässt sich kaum abwenden. Schmerzhafte 35 Minuten dauert es, bis die Hand über und über mit dem Muster bestickt ist – und dann wird der Faden aufgetrennt, Stück für Stück aus der Haut gerissen. Zurück bleibt ein verwundeter Körperteil. „Şiryan“ heißt diese performative Videoarbeit der kurdischen Künstlerin Fatoş İrwen, die derzeit in einer der AIR-Wohnungen der Kunstmeile Krems lebt und gerade ihre Einzelausstellung in der Galerie Stadtpark vorbereitet.
Diskriminiert, unterdrückt, verfolgt
Wer wie Fatoş İrwen als Kurdin in Diyarbakır, im Südosten der Türkei, aufgewachsen ist, kennt zwangsläufig Diskriminierung, Unterdrückung und Verfolgung. Bereits zweimal wurde sie inhaftiert – mit vorgeschobenen Argumenten. Als sie 2012 das erste Mal ins Gefängnis kam, verärgerte sie die Sicherheitsleute: Diese konnten ihre Fingerabdrücke nicht erkennen – sie waren zu verschwommen, da die Künstlerin bereits als Kind ihre Hände bestickt hatte. Obwohl die türkischen Behörden über sie verfügten, stieß ihre Macht an ihre Grenzen.
İrwen wuchs, wie sie ask – art & science krems in ihrem Studio mit Blick auf die Donau erzählt, in einem streng religiösen, aber weltoffenen Umfeld auf, hinterfragte die islamischen Lehren aber bald. „Weil mir vieles davon falsch erschien“, wie sie erklärt. Zur Kunst führte sie sich gewissermaßen selbst. Auf die Frage, ob jemand sie dazu ermutigte, antwortete sie: „Ich erlebte die dunkelste Zeit in der Türkei. Die Menschen kämpften ums Überleben. In diesem sozialen und politischen Umfeld waren Kunst und Wissenschaft ein Luxus“, erinnert sie sich. „Dennoch eröffnete sich die Kunst mir schon früh, mit vier Jahren.“ Als Kind war sie gern allein, beobachtete lieber, was um sie herum vorging. Später studierte İrwen an der Dicle Universität in Diyarbakır Kunst und unterrichtete.
Bücher-Bündel
Wegen des schrecklichen Erdbebens 2023 war die Stadt damals auch in österreichischen Medien. Weniger bekannt ist heute die brutale Niederschlagung eines Aufstands 2015/16, bei dem 800 Angehörige der PKK sowie Menschen aus der Zivilbevölkerung und dem Sicherheitsapparat getötet wurden. Die türkische Polizei erschoss Menschen vor laufender Kamera, ließ Leichen in den Straßen liegen, zerstörte große Teile Diyarbakırs, darunter die Altstadt Sûr. Gräueltaten, die darin heute eingewebt sind und im Kontrast zum kulturellen und landschaftlichen Reichtum dieser Gegend stehen. İrwen reflektierte dies in einer Videoperformance „Sûr Fragments“ – gedreht am Tag vor ihrer Verhaftung 2017 in den Straßen von Sûr. Darin zieht sie ein Bündel mit Büchern hinter sich her, bietet Kindern Trauben an, schaukelt mit einem Stuhl hin und her, begießt das Pflaster – wie ein Grab. Bücher über Religion und Philosophie sind es, die sie verwendete. In einem Statement, das sie Stadtpark-Leiter David Komary schickte, formulierte sie dazu: „Welches Wissen und welche Überzeugungen können ihre Bedeutung behalten, nachdem sie so große Tragödien erlebt haben?“
Weibliche Gemeinschaften
Durch ihr Werk ziehen sich thematisch nicht nur Leben und Unterdrückung des kurdischen Volks, sondern auch die Gemeinschaft und die Arbeit von Frauen. Arbeiten wie „Şiryan“ sind von weiblicher Handarbeit geprägt. „Als ich ein Kind war, gab es viele Frauen in meiner Familie und um mich herum“, erzählt sie. „Meine Mutter hat immer etwas genäht, unsere Kleidung und die Dinge, die wir brauchten. Wir kauften nie fertige Kleidung in Geschäften. Aus diesem Grund wurden die Werkzeuge, mit denen die Frauen diese Bedürfnisse erfüllten, zu den wichtigen Materialien, mit denen ich meine Kunst ausübte.“ Später begann sie, ihren eigenen Körper mit Nadel und Faden zu bearbeiten.
Die Jahre 2017 bis 2020 verbrachte sie gezwungenermaßen ebenfalls vor allem zwischen Frauen. Das war die Zeit ihrer zweiten Haft, im Gefängnis von Diyarbakır. Die Kunst half ihr, diese zu überstehen. „Als ich ins Gefängnis kam, habe ich nach Material gefragt. Meine Familie hätte mir etwas gebracht. Doch alles wurde verweigert“, erzählt sie. „Aber ich glaube, das war sogar gut.“ Aus dem, was ihr zur Verfügung stand, schuf sie beeindruckende 1500 Werke, von denen einige nun die Galerie Stadtpark ausstellt. In den Duschen klaubte sie Haare ihrer Leidensgenossinnen auf, später stopften sie ihr diese sogar in eine Tasche. Daraus entstanden ästhetisch berückende wie bedrückende Kunstwerke: Sie rollte die Haare zu „Kanonenkugeln“ und verwob sie, die ein Sicherheitsnetz für Frauen symbolisieren.
Weitere Arbeiten entstanden auf Papier – dem einzig erlaubten Material, A4-Blättern – die sie mit Tee einfärbte und mit Haaren bestickte – oder zusammennähte, nachdem die Sicherheitsleute sie zerrissen hatten. In manchen Papierarbeiten arrangierte sie Haare zu bestrickenden Landschaftskompositionen, gemeinsam mit Gräsern – Vögel hatten sie in den Gefängnishof getragen, die Künstlerin steckte sie heimlich ein. Die Zartheit und poetische Ausstrahlung dieser Werke konterkariert die enorme Brutalität ihres Entstehungskontextes.
Leid, Schmerz, Hoffnung, Zuversicht
Von einer selbstreferenziellen Kunst hält sie sichtlich nicht viel. In einem Interview sagte sie einmal: „Ich glaube, dass es eine ethische und moralische Verantwortung ist, mit einer politischen Einstellung zu leben, als Künstlerin, als Frau und als Individuum.“
Die Poesie, die ihre Arbeit birgt, erzählt nicht nur von Leid, Schmerz und Dunkelheit der kurdischen Geschichte und Gegenwart, sondern birgt auch Hoffnung und Zuversicht.
Nina Schedlmayer