Blinde Flecken

Wie wird Geschichte unsichtbar? Diese Überlegung diente der Künstlerin Käthe Löffelmann als Ausgangspunkt für ihre Installation an einer Eisenbahnbrücke in Krems.
By
Künstlerin Käthe Löffelmann in Krems

Wie wird Geschichte unsichtbar? Diese Überlegung diente der Künstlerin Käthe Löffelmann als Ausgangspunkt für ihre Installation an einer Eisenbahnbrücke in Krems.

Ein Spätnachmittag im November. Über die Undstraße, die Krems und Stein verbindet, legt sich die Dämmerung, durchsetzt von heimelig wirkenden Lichtern und dem aufgehenden Vollmond, der an diesem Tag besonders groß erscheint. Allgemeine Betriebsamkeit konterkariert die heimelige Stimmung: Autos, Radfahrer*innen, Fußgänger*innen machen sich offensichtlich auf den Weg nach Hause. Sie passieren dabei eine Eisenbahnbrücke, die kürzlich die Künstlerin Käthe Löffelmann gestaltet hat.

„Sinnbild institutioneller Unsichtbarkeit“

Eine Gestaltung, die sich aber erst dann zu erkennen gibt, wenn man sich direkt darunter befindet. An den Wänden und der Decke an der Unterseite steht in großen, verzerrten Lettern auf blauem Grund: „Wen/was wir nicht (mehr) sehen können“. Die cleane Schrift steht im Gegensatz zur Mauer an den Seitenwänden. Plastisch, fast skulptural tritt die bereits vorhandene Wand hervor.

Aber: Wer oder was ist es, den oder das wir nicht (mehr) sehen können? Zum Beispiel das, was auf der anderen Seite der Brücke liegt, etwa die Justizanstalt Stein, die vor 80 Jahren Schauplatz eines Endphasemassakers wurde. Vieles an diesem Ort blieb und bleibt vor der Öffentlichkeit verborgen, wie Käthe Löffelmann erklärt, er sei ein „Sinnbild institutioneller Unsichtbarkeit“.

Vergessen produzieren

Lange Zeit blieben auch die Arbeiterinnen in der Tabakfabrik, die heute den Campus Krems und die Kunsthalle beherbergt, verborgen. Diese erkämpften unter anderem eine Arbeitszeitreduktion, aber auch eine Kinderkrippe gab es dort. „Die Annahme, dass Erwerbsarbeit von Frauen ein modernes Phänomen sei, zeigt, wie aktiv Vergessen produziert wird“, so Käthe Löffelmann. Mittlerweile arbeiteten Forscherinnen wie die Kulturhistorikerin Edith Blaschitz diese Geschichte auf.

Für die Gestaltung der Brücke schrieb die Stadt Krems einen geladenen Wettbewerb aus, bei dem Käthe Löffelmann überzeugte. Wie ging sie an die Sache heran? „Ich habe erst mal den Ort auf mich wirken lassen“, erzählt sie. „Krems ist einerseits eine Kulturstadt, aber andererseits gibt es die Justizanstalt Stein, in der 1945 ein Häftlingsmassaker war.“ So war ihr sofort klar, dass sie sich näher mit diesen Schichten der Vergangenheit befassen müsse. Gerade im öffentlichen Raum denke sie stets den Ort mit, wenn sie ein Konzept für ein Kunstwerk entwickelt, erzählt sie. So kam sie auf die blinden Flecken in der Geschichtsschreibung. Das absichtliche Unwissen wird, wie sie entdeckte, mittlerweile sogar erforscht: „Agnotologie“ heißt die Wissenschaft von der „kulturellen Erschaffung und Aufrechterhaltung von Unwissen.“

Ein Wort sagt mehr als tausend Bilder

Wichtig ist Käthe Löffelmann aber auch die Gestaltung des Schriftzugs, das Spiel mit den Satzzeichen: Wenn ein Wort, wie hier „mehr“, in Klammer steht, erweitert sich die Dimension der Aussage. „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“: Dieser beliebte Spruch könne auch umgekehrt werden, betont die Künstlerin. Wobei der Satz, den sie auf die Mauern gemalt hat, nicht einfach lesbar ist: Im Gegensatz zu den schnell erfassbaren Botschaften auf Werbeplakaten, die den öffentlichen Raum besetzen und definieren, erschließt sich das Kunstwerk von Käthe Löffelmann nicht auf den ersten Blick. Zudem spiegelt die Gestaltung „die verzerrte Wahrnehmung in der Wiedergabe von Geschichte“, so Käthe Löffelmann.

Drei Wochen benötigte die Künstlerin, die nicht nur mit den Medien Fotografie und Film, sondern auch als Street Artist arbeitet, für die Installation der Wandmalerei. „Wegen der Steinstruktur war es langwieriger als zuvor angenommen“, erzählt sie. Für die Anrainer*innen war dies, so beobachtete sie, auch ein wenig aufregend. „Es war schön zu sehen, wie die Leute darauf positiv reagierten.“

Dass an einem frequentierten Ort wie diesem manche Passant*innen auch irritiert sind, liegt in der Natur der Sache. Wäre die Kunst gleichgültig, hätte sie wohl ihre Aufgabe verfehlt.

Artikel teilen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Joe Bradley, der Mann mit den 25 Händen

Joe Bradley, der Mann mit den 25 Händen

Der Maler Joe Bradley erfindet sich stets neu. Er spielt…
Wie OMICS-Technologien Diagnosen bereichern

Wie OMICS-Technologien Diagnosen bereichern

Andreas Lackner, Stammzellforscher und Studiengangsleiter am IMC Krems, über das…
Blinde Flecken

Blinde Flecken

Wie wird Geschichte unsichtbar? Diese Überlegung diente der Künstlerin Käthe…

Tags

Gratis-Abo
ONLINE-MAGAZIN PER MAIL

Art and Science Krems 2 mal im Monat