Die Ohren eines Babys sind bekanntlich empfindlich. Aus diesem Grund setzt die Designerin Roosa Tulvio ihrem kleinen Sohn während des Gesprächs in den Kremser Österreichhallen einen Hörschutz auf: nämlich in jenem Moment, als die Geräuschkulisse lauter und lauter wird.

Oase der Ruhe
Gemeinsam mit ihrem Künstlerpartner Mathias Gmachl baut Roosa Tulvio an diesem Tag im Juni, an dem ask – art & science krems die beiden interviewt, Teile ihrer Installation „Seeds of Life“. Zum Zeitpunkt, zu dem dieser Text erscheint, wird diese längst stehen, sie wird Passant*innen der Kunstmeile Krems verführen, verzaubern – und zum Nachdenken bringen, als „eine Art Garten, der mitten im Zentrum von Krems eine kleine sauerstoffproduzierende Oase der Ruhe schafft“, wie Tulvio und Gmachl schreiben.
Die Österreichhallen, gleich neben dem Stadtpark, verfügen über gefühlt fußballfeldgroße Räume. Sonst dienen sie Veranstaltungen wie dem Donaufestival. Nun sind sie zu einer „temporären Kunstfabrik“ mutiert, wie es Gmachl ausdrückt. An mehreren Stationen wird gesägt, gebohrt, genagelt, experimentiert, aufgebaut und getestet. Am Ende sollen aus den vielen unterschiedlichen Materialien luftige Skulpturen entstehen. Dazu erklingen in der Natur aufgenommene Sounds. „Die künstlerische Intervention soll zur Diskussion darüber anregen, wie wir mit der Natur koexistieren und sie pflegen können, anstatt sie auszubeuten und nur als Mittel zur Erzielung materiellen Gewinns zu betrachten“, so das Künstlerduo.

Die Care-Arbeit der Ameisen
Aber noch sind Tulvio und Gmachl am Werken. Sie residieren in einem der Studios von AIR – ARTIST IN RESIDENCE Niederösterreich und teilen ihrer Aussage zufolge „eine Leidenschaft für das Arbeiten im öffentlichen Raum, Materialstudien und nachhaltige Praktiken“. Ebenso ein Interesse an der Natur. So ist ein Ausgangspunkt von „Seeds of Life“ eine besondere Eigenschaft von Phasmiden, eine Insektenart, die auf Deutsch den schönen Namen Gespenstschrecke trägt. Roosa Tulvio erklärt: „Ihre Eier ziehen Ameisen an; diese nehmen sie mit in ihr Nest, wo sie es warm haben. So sind sie beschützt.“ Tulvios Gedanke: „Die Menschen sollen diese Ameisen zu schätzen wissen.“ Schließlich habe all das auch mit dem Thema Care zu tun: Sorge tragen für andere.
Handwerker*innen statt Roboter
Beim Aufbau im Juni laden Roosa Tulvio und Mathias Gmachl ask – art & science krems ein, die Installation virtuell zu erleben: Eine VR-Brille lässt im kahlen Teil der Halle die Dimensionen erahnen, gibt einen beeindruckenden Einblick der organisch geformten Skulpturen. Mit virtueller Realität arbeiten Mathias Gmachl und Roosa Tulvio auch bei der Konstruktion der Struktur von „Seeds of Life“. Sie besteht aus Ziegeln, die aus Holzabfall gepresst sind und zusammengenagelt werden. An einer Teststation überprüft ein Gerät, ob die einzelnen Elemente stark genug sind, um den Bau zu tragen. Um sie zusammenzubauen, verwenden die Mitarbeitenden ein Headset mit einer VR-Brille, in dem der Plan in 3D eingespielt ist – und in der sie auch sehen, was sie gerade bauen. „Wie in einem Computerspiel“, so Gmachl, der seine Begeisterung für diese Technologie, die er vor wenigen Jahren erstmals ausprobierte, nicht verhehlt. Auf diese Art können sie flexibel und präzise arbeiten. Zwar könnten auch Roboter diese Strukturen bauen. „Aber wir arbeiten lieber mit Handwerker*innen“, sagt Gmachl. „Außerdem können Roboter nur die eher einfachen Sachen machen“, ergänzt Tulvio.

Bei der Umsetzung von „Seeds of Life“ sind für das Duo zudem lokale Bezüge wichtig: Das Summen der Bienen, das Zwitschern der Vögel und andere Naturgeräusche, die in der Installation ertönen, nimmt Tulvio in Krems auf; zudem kollaborieren die beiden mit hier ansässigen Unternehmen. „Dieser lokale Materialansatz bindet nicht nur die Menschen vor Ort stärker in die Geschichte ein, sondern eröffnet auch neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren – von Herstellern über Biologen bis hin zu anderen Interessengruppen“, erklären die Künstler*innen.
Moose, Weinreben, Lavendel
An einer anderen Station stapeln sich ausgesägte Teile, die später neben den Skulpturen installiert werden und Eier – von Tulvio und Gmachl als „Seed Eggs“ bezeichnet – darstellen. Die Gestänge, an denen diese Konstruktionen befestigt sein sollen, stehen bereits. Bei einem von ihnen lagern Kisten mit Pflanzen, die in den „Seed Eggs“ weiter wuchern sollen: Moose, Weinreben, Lavendel. An einem anderen Tisch stößt ein Streifen mit LED-Licht buntes und aufregendes Flirren aus. Inmitten der Industrial-Atmosphäre, inmitten von Bohren und Sägen in der Kunst-Werkshalle verbreitet es ein bisschen Discofeeling. Die LED-Lichtspiele werden Mathias Gmachl und Roosa Tulvio in den Eiern montieren. „Sie sollen eine bestimmte Stimmung verbreiten“, erklärt Roosa Tulvio, „an eine Art Traumlandschaft erinnern.“ Und in den Nächten Publikum anziehen und verführen, so wie die Eier der Gespenstschrecken die Ameisen.

In der Zwischenzeit sind weitere Holzgestänge-Teile entstanden. Drei Männer stehen vor der Halle, sie sägen und bohren weiter. Gut, dass Roosa Tulvios Baby einen Hörschutz trägt.
Nina Schedlmayer