Wie mentale und dentale Gesundheit zusammenhängen

Margrit-Ann Geibel unterrichtet an der Danube Private University genderspezifische Zahnheilkunde und erforscht den Themenkomplex mit ihren Studierenden. Als Oralchirurgin und Radiologin sieht sie bei Zahnärzten und Zahnärztinnen einen erweiterten Vorsorgeauftrag in einer alternden Gesellschaft und noch nicht genug Bewusstsein für Früherkennung, Demenzfreundlichkeit und barrierefreie Kommunikation.
By

Durch ihre jahrelange Beschäftigung mit geschlechtsspezifischen Aspekten der Zahnheilkunde kennt Margrit-Ann Geibel die „gnadenlosen statistischen Fakten“ genau. Frauen werden in unserer alternden Gesellschaft älter als Männer. Sie sind häufiger in die Pflege von alternden Angehörigen involviert – oft zunächst bei den eigenen Eltern und Schwiegereltern, dann häufig beim Ehemann. Und wenn sie selbst betagt, in der Mobilität eingeschränkt und dement sind, werden sie häufiger in Pflegeheimen versorgt. Die Oberärztin arbeitet im Hauptberuf als Oralchirurgin und Radiologin am Universitätsklinikum Ulm und engagiert sich schon lang – und nicht nur an der Danube Private University (DPU) – in der Aus- und Weiterbildung. Kommunikation ist nicht nur ein Steckenpferd, sondern ein weiteres Lehrfach der engagierten Zahnmedizinerin. Auch mit ihren Studierenden an der Danube Private University hat sie mehrfach Diplomarbeiten zum Thema Demenz, Gender und Kommunikation betreut. Sie legt Wert auf ein breiteres Rollenverständnis in der Zahnmedizin, sieht die Kolleg*innenschaft aber noch ungenügend darauf vorbereitet.

Porträt Magrit-Ann Geibel
Margrit-Ann Geibel, Oberärztin am Universitätsklinikum Ulm und Dozentin an der Danube Private University, beschäftigt sich intensiv mit geschlechtsspezifischen Aspekten der Zahnmedizin, insbesondere im Kontext von Alter, Pflege und Demenz.

Zahnmedizin als Frühwarnsystem

Zahnärztinnen und -ärzte sind in der glücklichen Lage, ihre Patientinnen und Patienten unter Umständen jahrelang zu betreuen und regelmäßig zur Kontrolle zu sehen: „Ein erstes Signal für beginnende Demenz kann eine schlechtere Mundhygiene sein. Sie ist ein Spiegel für nachlassende kognitive Fähigkeiten.“ Für ein funktionierendes Frühwarnsystem stehen auf der einen Seite Zahnmediziner*innen, die Spuren im Mundraum „strategisch“ auswerten und sich als Teil einer Präventionskette begreifen. Auf der anderen Seite steht eine entsprechende Anerkennung durch die Humanmedizin und das Ausschöpfen dieses präventiven Potenzials. Zu so einem Auftrag gehört, sich nach Medikamentenlisten zu erkundigen, sich den Kontakt zum Hausarzt bzw. zur Hausärztin geben zu lassen oder Angehörige zu informieren. Leider sind vielen Kolleg*innen einfache kognitive Tests, wie der „Uhrentest“ unbekannt. Häufig verschriebene Medikamente haben als akzeptierte Nebenwirkung häufig einen verringerten Speichelfluss zur Folge, der die Mundgesundheit beeinflusst. Bei der sorgfältigen Inspektion der Mundhöhle können Infektionen wie Candida oder Pseudomonas früh festgestellt werden, die auf den restlichen Körper übergreifen können.

Zahnärztinnen und Zahnärzte können durch regelmäßige Kontrollen früh Anzeichen einer Demenz erkennen, etwa an nachlassender Mundhygiene, und so eine wichtige Rolle in der Prävention übernehmen. Dafür ist jedoch ein besseres Bewusstsein für einfache kognitive Tests und die enge Zusammenarbeit mit der Humanmedizin nötig.

Barrierefrei in Raum und Sprache

Das Einmaleins der altersgemäßen Versorgung beginnt mit dem Einfühlen in die Bedürfnisse eines alternden Patientenkollektivs, das mit zunehmenden Einschränkungen lebt: „Ich verstehe oft nicht, woher die Ignoranz kommt, sind wir doch alle mehr oder weniger Jahre von diesem Zustand entfernt.“ Auf der Checkliste könnte eine entsprechend klare, kontrastreiche und große Beschilderung/Beschriftung stehen, ein Lift, breite Gänge und Türen, geräumige Wartezimmer für Patient*innen mit Rollator oder Rollstuhl. Passende und mehrfache Terminerinnerungen, das Einfordern einer Begleitperson, einfache Sprache und deutliche Kommunikation (ohne Mundschutz), um bei guter Beleuchtung zusätzlich Lippenlesen zu unterstützen.

Wenn Mobilität und kognitive Leistungsfähigkeit bereits stark eingeschränkt sind, ist eine aufsuchende zahnärztliche Versorgung mit mobilem Equipment für Margrit-Ann Geibel der bessere Weg. Denn das häusliche Umfeld, die sichere Umgebung zu verlassen, bedeutet Stress und zusätzliche Unsicherheit. Es braucht Beziehungsaufbau, genug Zeit, wertschätzende Kommunikation und weitere Betreuungspersonen. Denn welche Veranlassung hat jemand, der vielleicht seine eigenen Angehörigen nicht mehr erkennt, den Mund vor einem Wildfremden zu öffnen?

Bild eines Gebisses auf weissem HIntergrund dargestellt in einer Hand
Geibel betont die Bedeutung einer gründlichen und gut ausgestatteten oralen Untersuchung, um Folgeprobleme zu vermeiden und die Zahngesundheit im Alter zu erhalten. Japan ist Vorbild in der zahnmedizinischen Versorgung einer alternden Gesellschaft. Dort gilt die „8020-Politik“. Das bedeutet, dass bei Über-80-Jährigen 20 eigene Zähne im Mund erhalten werde sollen, weil eigener Zähne wesentlich zur körperlichen und geistigen Gesundheit beitragen.

Die 8020-Politik

Fachlich und auch rechtlich ist eine bestmögliche orale Inspektion geboten: „Im Sinne der Prophylaxe, der korrekten Diagnostik und einer geeigneten Schmerztherapie ist eine passende Ausstattung mit jedenfalls Stirnlampe, mobilem Röntgengerät, zwei Spiegeln und einer zweiten Person geboten“, empfiehlt Geibel. Ein Aufwand, der sich lohnt, wenn Folgeprobleme verhindert werden. Gerade wenn jemand gebrechlich ist, rät sie davon ab „Probleme zu lösen“, indem Zähne gezogen werden. International ist Japan ein Vorbild in der Versorgung einer alternden Gesellschaft. Dort gilt die „8020-Politik“ mit dem Ziel bei Über-80-Jährigen 20 eigene Zähne im Mund zu erhalten zur Unterstützung des gesunden Alterns: „Mental und dental, die kognitive Gesundheit und die Zahngesundheit hängen eng zusammen. Wer die Kaufähigkeit und Mundhygiene erhält, beugt Mangelernährung und Verdauungsproblemen vor, erhält die Durchblutung und verhindert Entzündungen.“

Das Setting und die Umstände dürfen die Standards nicht absenken. Manche Pflegeheime setzen bereits auf eigene Behandlungszimmer: „Weil wir das Wissen haben, können wir das Thema nicht vernachlässigen. Wir müssen uns bis ins hohe Alter um eine gepflegte Mundhöhle bemühen.“ Es gibt Hilfsmittel, die Betroffenen helfen sich möglichst lange selbst, sich darum zu kümmern. Eine Verkürzung des zahnärztlichen Kontrollintervalls wäre ebenfalls eine gute Investition. Spüllösungen und Phytopharmaka können die Mundtrockenheit als Nebenwirkung von Psychopharmaka, Parkinson, Krebsmedikamenten oder Bestrahlung verbessern helfen. Auch wer vorhat, Bisphosphonate gegen Osteoporose zu nehmen, sagt am besten den Behandler*innen Bescheid, weil es Einfluss auf die Heilung von Wunden hat.

Eine Nachfrage bei der Österreichischen Zahnärztekammer ergab, dass Österreich in Hinblick auf das Thema noch Entwicklungsbedarf hat. Aktuell gibt es in Deutschland eine Leitlinie zur zahnmedizinischen Behandlung von dementen Patient*innen, in Österreich aber (noch) nicht. Was Wegzeiten bei einer Behandlung im Pflegeheim oder den Einsatz von mobilen Röntgengeräten vor Ort betrifft, können Zahnärztinnen und Zahnärzte eine Visite mit der Krankenkasse verrechnen. Mobile Röntgengeräte dürften aktuell aber kaum im Einsatz sein. Eine Behandlung im Pflegeheim ist aus Sicht der Kammer aktuell nur sehr eingeschränkt möglich. Bei den meisten Leistungen handelt es sich um die Adaptation von bestehenden Zahnersätzen bzw. die Anfertigung von simplen herausnehmbaren Prothesen. Es gibt hierzulande weder Empfehlungen für „demenzfreundliche“ Zahnarztpraxen noch eine Zertifizierung ähnlich wie bei Apotheken. Auch Aufklärungsbögen und Material für verschiedene Zielgruppen zur Bewusstseinsbildung rund um Prophylaxe, Hilfsmittel und Herzgesundheit oder einen Mundpflegekoffer sind hierzulande nicht im Einsatz.

Artikel teilen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Welche Fachkräfte unterstützen ab 2027 Kliniken in der Krebs-Diagnostik?

Welche Fachkräfte unterstützen ab 2027 Kliniken in der Krebs-Diagnostik?

Mitte September 2025 hat der erste englischsprachige Masterstudiengang „OMICS-Technologies and…
Kino im Kesselhaus: mehr als eine Rolle

Kino im Kesselhaus: mehr als eine Rolle

Vor 20 Jahren eröffnete das Kino im Kesselhaus. Waltraud Bruckner…
Attraktive Insekten

Attraktive Insekten

Alexandra Kontriner zeichnet Insekten, Pflanzen und Wälder. Ihre Papierarbeiten werfen…

Tags

Kurzvita

Univ.-Prof. Dr. med. dent. Dr. phil. Margrit-Ann Geibel, MME

Fachzahnärztin für Oralchirurgie

Ltg. Genderspecific Dentistry Danube Private University (DPU)

Ltg. Dento-maxillofaciale Radiologie, Klinik für MKG-Chirurgie, Universität Ulm

 

© unsplash | privat
Gratis-Abo
ONLINE-MAGAZIN PER MAIL

Art and Science Krems 2 mal im Monat