Die erhellte Sprache

Wenn Piroggen zu schlafenden Heeren werden: Der Dichter Tomasz Różycki, derzeit Writer in Residence im Literaturhaus Niederösterreich, entwickelte für seine gesellschaftspolitischen Texte eine ungeheuer poetische Sprache.
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Blatt Papier mit handgeschriebenen Gedicht und einer Füllfeder

Die Texte von Tomasz Różycki entfalten enorme poetische Kräfte. Das lässt sich anhand zweier Stellen in seinem Roman „Zwölf Stationen“ demonstrieren. Dort flicht er in die Schilderung der Herstellung von Piroggen eine Analogie zwischen den traditionellen polnischen Teigtaschen und einem „ungeheuren schlafenden Heer“ ein. Weiter hinten erscheint der Busbahnhof von Opole, jener Kleinstadt, in der er selbst lebt, wie ein „Dickdarm und eigentlich der ganze Verdauungs- und Ausscheidetrakt in einem.“ Denn jeden Morgen würden die Jungen aus der Umgebung von der Stadt verschlungen „als unentbehrliche Nahrung, um sie des Abends wieder auszuspeien, in arg verbrauchter und unfrischer Form.“

Zwischen Polen und der Ukraine

Das Versepos erzählt die aufregende wie groteske Geschichte eines Protagonisten, stets nur „Enkel“ genannt, der von seiner Großmutter die Aufgabe erhält, alle rund 300 Familienmitglieder zu finden. Dass diese Sippschaft vor allem in Polen und der Ukraine angesiedelt ist, scheint kein Zufall: Denn Tomasz Różycki, der im September Writer in Residence des Literaturhauses Niederösterreich auf der Kunstmeile Krems ist, wurde 1970 selbst in eine Familie geboren, die einst aus Lemberg vertrieben wurde.

Auch durch jüngere Romane wie „Die Glühbirnendiebe“ (das laut Frankfurter Allgemeine Zeitung das Potenzial hat, „ein europäischer Klassiker zu werden“) und Essays wie „Großmutters Haus“ zieht sich die Thematik. „Die Geschichte meiner Familie ist eine mitteleuropäische“, sagt Tomasz Różycki im Gespräch mit ask – art & science krems. „Ich spreche über eigene Erfahrungen. Das ist authentischer.“ Zwar beruhen Romane und Erzählungen wie „Zwölf Stationen“ nicht auf realen Geschichten. Doch Tomasz Różycki bezeichnet ihren Inhalt mit dem Begriff „künstlerische Wahrheit“, den er so erläutert: „Fiktion ist Fiktion. Aber Geschichten basieren auf Fakten.“ Seine kunstvolle Poetik, die mit erfundenen Worten arbeitet und seinen Texten einen eigenen Rhythmus verleiht, erinnert bisweilen an die Werke seines Landsmanns Witold Gombrowicz. Über ihn sagt er: „Er ist eine meiner wichtigsten Referenzen, ich liebe seine Tagebücher. Sie sind sehr intensiv und philosophisch.“

Porträt von Tomasz Różycki
Różyckis Werke wirken im Kontext des Ukrainekriegs besonders aktuell, da sie für Gemeinsamkeiten statt Grenzen in Mitteleuropa plädieren. Neben seiner Dichtung ist er auch als Übersetzer bekannt, wobei er Übersetzen als eine dem Dichten ähnliche, kreative Arbeit versteht.

Mehr Gemeinsamkeiten

Vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs erscheinen die Gedichte, Romane und Essays des Schriftstellers umso brisanter. „Heute geht es in Mitteleuropa ständig um Grenzen“, sagt er. „Aber diese Geschichten können zeigen, dass es tatsächlich mehr Gemeinsamkeiten gibt als Unterschiede. Es gibt mehr Gründe, gemeinsam zu agieren als gegeneinander zu kämpfen.“

Neben seinen zahlreichen, vielfach ausgezeichneten Werken hat sich Tomasz Różycki auch als Übersetzer aus dem Französischen einen Namen gemacht. Ein solcher, schrieb er einmal, müsse eine Arbeit leisten, „die der des Dichters ähnelt. Er muss dessen Spuren folgen.“ Zwar gehe die Poesie verloren „aber auf jeder Etappe des Verlusts kann auch etwas Neues geschaffen werden.“

Komplizierte und schmerzvolle Geschichten

Wie geht es ihm, wenn seine eigenen Texte in andere Sprachen übertragen werden? „Das ist oft sehr kompliziert. Ich arbeite intensiv mit den Übersetzern und Übersetzerinnen zusammen“, erzählt er. „Manche schicken einen ersten Entwurf mit Fragen, die manchmal schwierig zu beantworten sind.“ Seine Dichtung spiele gern „mit Ambivalenzen von Wörtern“. Die sich freilich beispielsweise im Deutschen völlig anders darstellen. Eine Besonderheit seiner Lyrik, betonte die Essayistin und Literaturwissenschaftlerin Małgorzata Gorczyńska, bestehe darin, dass er „Geschichten erzählt, die wir nicht erzählen wollen, komplizierte und schmerzhafte Geschichten. Er erzählt sie mit Wörtern, deren besondere Färbung sich nur schwer in andere Sprachen übersetzen lässt.“

Das zeigt sich gut daran, dass Tomasz Różycki manchmal Worte erfindet. Da jeder Versuch einer Eins-zu-eins-Übertragung ins Deutsche zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist, erdachte Übersetzer Olaf Kühl für das Versepos „Zwölf Stationen“ selbst Begriffe wie „Grober- und Biederschlesien“ oder „Teiggeschnadder“.

Buchcover "Die Glühbirnendiebe" mit einem Bild erin Glühbirne, die von der Decke hängt mit verschwommenen Glitzerlichtern im Hintergrund.
Tomasz Różycki verbindet in seinen Werken, wie „Die Glühbirnendiebe“ persönliche Erfahrungen mit „künstlerischer Wahrheit“, also Fiktion auf Basis von Fakten. Seine poetische Sprache erinnert an Witold Gombrowicz, den er als Vorbild schätzt.

Trotz allem: Hoffnung

Różycki reflektiert poetisch Geschichte, die sich auch in der politischen Gegenwart spiegelt. Wie die meisten europäischen Länder durchsetzt die Gesellschaft auch in seinem Heimatland ein Hang zu autokratischen Parteien – dabei zeigte sich in Polen mit der Ablöse der PIS-Partei, dass eine Rückkehr zu demokratischen Strukturen möglich ist. Doch es bleibt ein Auf und Ab: Erst kürzlich wurde der Staatspräsident der PIS-Partei, Karol Nawrocki, angelobt. Demokratiepolitische Errungenschaften drohen wieder zurückgenommen zu werden. Tomasz Różycki irritiert vor allem, dass junge urbane Wähler*innen für die PIS-Partei votierten. „Sie wissen nicht viel über die Geschichte und über das Leben in einem totalitären Staat. So wählen sie jemand, der aus dem Nichts kommt, weil sie ihn für lustig halten, weil er früher ein Boxer war“, sagt er. „Das ist aber kein Spiel, das ist das Leben.“

Welche Wirkungsmacht kann Literatur, kann Kunst überhaupt vor diesem Hintergrund entwickeln? Małgorzata Gorczyńska beantwortet diese Mutter aller Fragen im Fall von Różycki so: „Diese Geschichten spenden keinen billigen Trost. Doch sie besitzen die unerhörte, leuchtende Intensität der poetischen Sprache – und sie ist es, diese von etwas Gutem und Schönem erhellte Sprache, die trotz allem Hoffnung gibt.“

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2 Antworten

    1. Sehr geehrte Frau Fiala,
      vielen Dank für Ihren Kommentar. Manchmal sind es gerade die einfachen Sätze, die am tiefsten berühren!
      Ihr ask-Team

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Lesung mit Tomasz Różycki und Anna Weidenholzer am 21. September in Schleinbach bei „Das Land liest“: https://www.daslandliest.at/vst/2025Schleinbach.php

Die Bücher von Tomasz Różycki erschienen auf Deutsch in der Edition Fototapeta.

© unsplash | Grzegorz Kubiak | fotoTAPETA
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