Was wir mitbekommen

Am ersten Schultag kommt jede*r mit einem anderen Rucksack, in dem auch Wissen und Ressourcen aus dem Elternhaus stecken. Soziologe Michael Holzmayer, selbst ein Bildungsaufsteiger, erklärt, wie kulturelle Bildung im Klassenzimmer gelingen kann und was echte Barrierefreiheit bedeutet.
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Vater mit Kind vorlesend auf einem Sitzsack

In Österreich werden nicht nur Immobilien und Vermögen vererbt, sondern zumeist auch der Bildungserfolg. Einer der einflussreichsten Soziologen des 20. Jahrhunderts, Pierre Bourdieu, erweiterte den Kapitalbegriff, um die gesellschaftliche „Reproduktion sozialer Ungleichheit“ zu erklären. Neben ökonomischem Kapital etablierte der Franzose subtilere, aber nicht weniger wirkmächtige Formen, die Einfluss auf die Startbedingungen im Leben haben. Wir sind mit mehr kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital ausgestattet, oder weniger. „Für meine Arbeit zur Weiterentwicklung des Bildungssystem ist Bourdieus Theorie zentral und immer noch gültig. Er hat die Soziologie in den 1970-ern umgekrempelt mit seiner Perspektive und steht – in unserer Migrationsgesellschaft mit teilweise kaum überwundenen Geschlechterstereotypen – wieder im Fokus“, erklärt Michael Holzmayer, Bildungssoziologe an der KPH Wien/Niederösterreich. Ihn interessiert, worauf Unterschiede im Bildungserfolg ab dem Kindesalter beruhen und mit welchen sozialen Faktoren sie sich begründen lassen. Bourdieus Studien aus Frankreich sind nicht eins zu eins auf das österreichische System übertragbar, aber ein gutes Fundament für seine Forschung zu sozialer Ungleichheit.

An der KPH werden Lehrer*innen für die Primarstufe ausgebildet. Und hier sieht Michael Holzmayer einen ersten Ansatzpunkt weil gerade in der Volksschule Schüler*innen aus allen gesellschaftlichen Schichten zusammenkommen. Der deutsche Soziologe Aladin El-Mafaalani schreibt, dass die Schule an der Mittelschicht orientiert ist – die Randlagen werden zuwenig beachtet.

Neben Schwerpunkten wie Deutsch als Fremdsprache/Zweitsprache und Inklusionspädagogik – brauchen angehende Pädagog*innen „einen geschärften Blick für soziale Unterschiede und ihre Ursachen“. Diese sind relativ einfach zu verstehen, aber nicht ganz einfach zu erlernen.

Porträt von Herrn Holzmayer - er trägt ein weißes Hemd und eine schwarze Hose, steht telefonierend im Raum vor 2 großen, grünen Pflanzen.
Michael Holzmayer, Bildungssoziologe an der KPH Wien/NÖ, untersucht mit Bourdieus Kapitaltheorie, wie soziale Ungleichheit den Bildungserfolg schon im Kindesalter prägt. Er sieht die Volksschule als zentrale Stelle, um Unterschiede zwischen Kindern aus verschiedenen Schichten auszugleichen.

Diversität ist nicht nur Migrationshintergrund

In welche Richtung muss die Brille für Lehrer*innen also geschliffen werden? Sie brauchen ein Bewusstsein für verschiedene Verhältnisse, um nicht alle Kinder in einen Topf zu werfen oder gar abzustempeln. Es ist nicht egal, ob jemand Fluchterfahrung hat, von Sozialhilfe lebt, kein Deutsch kann oder einen langen Schulweg hat. Die „Begabungsideologie“ ist hierzulande stark verbreitet, aber auch Begabung kann vor dem ersten Schultag gefördert worden sein. Grundsätzlich werden ganz verschiedene Menschen in Österreich Lehrer*innen, aber, „nicht wenige erliegen wohl dem neoliberal-meritokratischen Mythos, der angeblich Leistung belohnt. Daraus kann schnell die Vorstellung werden: Wenn ich selbst es geschafft habe, dann können es andere auch schaffen“. Michael Holzmayer will Schlagworte wie Diversität, Partizipation und Barrierefreiheit weiterdenken.

 „Wir haben alle eine kulturelle Bildung durch unser Elternhaus bekommen, aber im schulischen Kontext zählen nur bestimmte Formen. Diversität bei Taferlklasslern bedeutet, dass manche schon Stift und Buch in der Hand hatten, im Theater oder Museum waren, gerne zeichnen oder vorgelesen bekommen haben.“ Das Recht auf kulturelle Teilhabe ist ein Menschenrecht. Pierre Bourdieu spricht von „Möglichkeitsräumen“, die weiter geöffnet werden. In der Schule kommen alle zusammen. Also ist sie ein Ort, wo kulturelles Kapital mitgegeben und kulturelle Bildung abseits vom Elternhaus erweitert werden. Wiewohl ein großer Vorsprung nie ausgeglichen werden kann.

Didier Eribon, Annie Ernaux haben Bourdieus Ideen von Habitus und kulturellem Kapital in Literatur verwandelt. Eribon beschreibt, wie er um den Zugang zur Universität raufen muss, seine Freude bei der Entdeckung neuer Welten und die Trauer über die zunehmende Entfremdung vom Elternhaus. Ernaux beschreibt in einem Buch, wie sie lange mit den Eltern am Esstisch diskutiert, was wohl mit „Abendgarderobe“ gemeint sein könnte. Museum, Theater und Büchereikarte für Kinder kostenlos anzubieten, reicht nicht aus. Kindern müssen diese Orte zugänglich gemacht werden, damit sie die Scheu davor verlieren und sich diese Orte auch aneignen und selbstverständlich nutzen können.

Kinder starten mit sehr unterschiedlichem kulturellem Kapital ins Schulleben. Die Schule kann helfen, Chancen zu öffnen, und kostenlose Angebote wie Museum, Theater oder Büchereikarten für Kinder unterstützen das – doch entscheidend ist, dass Kinder auch aktiv an diese Orte herangeführt werden, um Barrieren abzubauen.

Strukturen, Reformen & Barrieren

Wenn es um Reformen im Bildungssystem geht, die Ungleichheiten in der Ausstattung mit kulturellem Kapital ausgleichen könnten, ist das zweite verpflichtende Kindergarten-Jahr, wie es aktuell in Österreich geplant wird, sehr positiv. So können früher und altersgerecht kulturelle Praktiken geübt werden: im Sitzkreis zuhören und aktiv teilnehmen, eigene Bedürfnisse für eine gewisse Zeit zurücknehmen, zeichnen, gemeinsam singen, aushandeln und spielerisch Sprache lernen. Eine spätere Selektion der Schulform wäre eine weitere – in der Forschung unumstrittene – Bildungsreform. Aber die Gesamtschule ist vorerst nicht in Sicht. Bei uns wird die Entscheidung über eine weiterführende Schule mit neun Jahren getroffen und das verfestigt bestehende Unterschiede weiter. Kein Wunder, dass Holzmayer sich in seiner Antrittsvorlesung auf den Matthäus-Effekt bezog mit dem Bibelzitat „Wer da hat, dem wird gegeben“.

In einem EduCult-Projekt hat die Stadt Krems vor kurzem ein Konzept für kulturelle Bildung entwickelt, das über die Vermittlung von Inhalten hinausgehen soll. Kulturelle Bildung wird darin als Prozess der Persönlichkeitsentwicklung, der gesellschaftlichen Teilhabe und des kreativen Ausdrucks definiert. Es geht hier um die gezielte Vernetzung von Schulen mit Kulturinstitutionen, Pädagog*innen und Künstler*innen über eine digitale Plattform namens Kultur-Cosmos. Für ein gutes Gelingen hat der Bildungssoziologe ein paar ganz praktische Empfehlungen: „Gut ist wenn Kulturinstitutionen an Orte kommen, wo Kinder schon sind oder Schulklassen in die Institutionen holen. Aber begleitend geht es darum, dass die Kinder diese neue Welt ohne Scham und Scheu kennenlernen können.“ 

Michael Holzmayer mit seiner Tochter beim Musizieren mit einer Gitarre.
Ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr kann helfen, Kindern früh wichtige soziale und sprachliche Fähigkeiten zu vermitteln. Da die Schulwahl in Österreich schon mit neun Jahren erfolgt, verstärken sich Ungleichheiten – Holzmayer verweist dabei auf den Matthäus-Effekt: Wer Vorteile hat, bekommt meist noch mehr.

Was brauche ich, um ins Theater zu gehen? Was muss ich vorher wissen? Was passiert und was wird von mir erwartet? Neben Stufen können auch sprachliche Feinheiten zur Barriere werden. Wo ist das Foyer? Was ist eine Performance? Wie funktioniert ein Publikumsgespräch? Lehrer*innen müssen lernen, welche Begrifflichkeiten sie voraussetzen können und was erklärt werden muss – auch das ist differenzierter, sprachsensibler Unterricht und Barrierefreiheit. Diese Sensibilität könnte in Lehrveranstaltungen gut geweckt werden, wenn sie im Curriculum verankert würde – bisher ist das oft nur ein freiwilliges Programm. Ein großes Plus für Schulveranstaltungen ist natürlich, wenn Künstler*innen auftreten, die tatsächlich Ähnlichkeiten mit den Schüler*innen haben. Eine weitere Empfehlung des Soziologen sind Möglichkeiten zur Teilhabe, etwa durch Kinderbeiräte mit unterschiedlicher Zusammensetzung. Damit das geneigte Publikum eigene Bedürfnisse einbringen kann. Und natürlich immer im Kopf zu behalten, dass viele Kinder einen starken Bewegungsdrang haben, sich vielleicht nicht dauernd an alle Regeln halten und nicht immer Samthandschuhe anziehen.

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2 Antworten

    1. Sehr geehrte Frau Fiala,
      vielen Dank, dass Sie sich für einen Kommentar die Zeit genommen haben! Wir finden auch, dass dieser Beitrag ein sehr wichtiges und lehrreiches Thema behandelt.
      Ihr ask-Team

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