Es kann nicht oft genug betont werden: Pflegende Angehörige und 24-Stunden- Betreuerinnen sind DIE tragende Säule der Pflege in Österreich. Die Bedeutung häuslicher Pflege ist riesig, die Anerkennung, Unterstützung und Sichtbarkeit dieser Leistungen hingegen unangemessen winzig. Der Klimawandel mit immer mehr Hitzetagen und Tropennächten verschärft die Situation in der häuslichen Pflege zusätzlich, denn hohe Temperaturen machen beiden Seiten zu schaffen: Pflegenden und Gepflegten. Angehörige übernehmen – meist unvorbereitet – von einem Tag auf den anderen viele Aufgaben – auch zusätzlich zu Erwerbsarbeit oder Kindererziehung. Die 24-Stunden-Betreuung in fremden vier Wänden wird überwiegend durch Frauen aus anderen Ländern erbracht, die aufgrund ihrer Muttersprache zusätzlich isoliert und als neue Selbständige arbeitsrechtlich wenig organsiert sind. Am IMC Krems wird deshalb die Usability einer App wissenschaftlich begleitet, die bei steigenden Temperaturen geprüfte Informationen zur passenden Selbstfürsorge und Laienpflege vermittelt.
Gemeinsam und zeitsparend vorgehen
Im Projekt „Klimawandel und Gesundheit im Kontext von Laienpflege“ haben Pflegewissenschafterin Jette Lange und Soziologin Jacqueline Ludwig gemeinsam Interviews geführt und dabei herausgearbeitet, dass pflegende Personen kaum einen Gedanken oder eine Minute für Selbstfürsorge aufwenden. Die Frage, was sie selbst brauchen, stellen sie sich zuletzt. An erster Stelle steht die zu pflegende Person. Diese Aussage trifft – so die Ergebnisse der qualitativen Befragung – unabhängig von der Beziehung zur gepflegten Person zu. Die Grundregel im Projekt lautet daher: „Wir verschwenden möglichst keine Zeit von Leuten, die eh keine haben“, betont Jette Lange und ergänzt: „Der Bereich der informellen Pflege ist kaum erforscht, eben weil die Gruppe groß und schwer erreichbar ist. Wir mussten für die Forschung viel Vertrauen aufbauen, unsere Fragen anpassen, manchmal mit Übersetzungstools arbeiten“. Kontakt zu den Frauen wurde über Sozialorganisationen, eine Vermittlungsagentur für 24-Stunden-Betreuung und die Consultingagentur ÖSB hergestellt, die auch den Projektlead hat. „Fachlich ergänzen wir uns gut. Wir lernen viel voneinander und sehen verschiedene Dinge, wenn wir die Interviews gemeinsam durchgehen – das ist gut in einem unterbeforschten Feld“, betont Jacqueline Ludwig.

Hitze macht allen zu schaffen
Der Klimawandel wirft bekanntlich keine Schatten voraus, sondern befeuert Hitzetage, andauernde Hitzeperioden und Tropennächte, die jeden Organismus vielfältig belasten. Die Wärmeperioden beginnen früher, ziehen sich länger. Jedes Jahr gibt es etliche Hitzetote in Europa (eine Studie weist für 2023 47.690 hitzebedingte Todesfälle aus). Hohe Temperaturen schlagen sich u.a. auf Appetit, Stimmung, Schlaf und Kreislauf nieder – sie erschweren, was ohnehin schon eine anstrengende Aufgabe ist. Viele reagieren bei Hitze instinktiv richtig und suchen kühlere Orte. Jedoch verhindern manchmal bauliche Gegebenheiten oder Mobilitätseinschränkungen der zu pflegenden Person diese Schutzmaßnahmen. Zusätzlich wirkt sich Hitze bei mehrfach erkrankten, älteren oder an Long-COVID leidenden Personen stärker aus. Und auch die Lagerung und Wirkung von Medikamenten kann an Hitzetagen problematisch werden. Da ist es wichtig, kreativ zu denken, pflegerische Kniffe anzuwenden und im Sinne einer „preparedness“ auf Hitzewellen vorbereitet zu sein.
K(l)uge App-Entwicklung
Am Beginn stand 2023 eine Datenbankrecherche zu Studien sowie Hitze- und Katastrophenschutzplänen. 2024 folgten die qualitativen Interviews zu Themen wie pflegerischer Alltag, Selbstfürsorge, Umgang mit Hitze oder der Recherche zu Gesundheitsfragen im Internet und Apps etc. Die Teilnehmenden wurden in einem Workshop gebrieft und bekamen einen Probezugang zur App KUG (Klimawandel und Gesundheit), die das Technikteam People X, eine Tochterfirma der ÖSB, programmiert hat. KUG präsentiert Wissensnuggets zu Klimawandel, Ernährung, Schlafstörungen, Stimmung oder der Kühlung von Personen und Gebäuden. Das wichtigste Learning der ersten Phase: Es ist wahrscheinlich nicht sinnvoll, eine eigenständige App zu entwickeln. Besser aufgehoben wären die Funktionalitäten als Modul anderer Apps, die Pflegende / Angehörige sowieso nutzen. Aktuell steht die Nutzerfreundlichkeit im Fokus – diesen Sommer werden im Testbetrieb bei Hitzewarnung Push-Nachrichten verschickt mit Vorbereitungstipps, Checklisten und Vernetzungsangeboten. Für organisatorische Themen sind pflegende Personen meist gut vernetzt, aber nicht zwingend für Gesundheitsthemen. In den Foren geht es bei Angehörigen meist um zeitraubende Anträge, bei den 24-Stunden-Betreuerinnen um die Selbstversicherung in Österreich. Jacqueline Ludwig: „Ein Smartphone nutzen inzwischen praktisch alle – nach der einmaligen Installation und dem Zugangscode verursacht die App keinen weiteren Zeitaufwand. Wir haben das praktische Problem gelöst, dass die App auch mit Providern aus anderen Ländern nutzbar sein muss und sie spricht verschiedene Sprachen.“

Worüber Lange und Ludwig noch grübeln, ist die Tatsache, dass Gesundheitsinformationen von den 24-Stunden-Betreuerinnen eher bei den eigenen Landsleuten erfragt werden, als im heimischen Gesundheitswesen. Auch eigene Beschwerden lassen sie Zuhause behandeln. Die Pflegewissenschaftlerin und die Soziologin erlebten aber auch einen Perspektivwechsel. Während 24-Stunden-Betreuerinnen medial meist als Opfer des Systems dargestellt werden, fühlen sie selbst sich nicht so. Sie wissen, dass sie einen verantwortungsvollen Job machen im Sinne von „Wir gehen zu den Leuten, zu denen sonst keiner geht. Wenn wir nicht kommen, kommt keiner“. Sie sind extrem eigenständig und ziehen daraus Selbstvertrauen.
Entwicklung sucht Anschlussmöglichkeiten
Das KUG-Modul wird bis 2026 verfügbar und fertig entwickelt sein. Aber es braucht noch gute Ideen zur Verbreitung. Jacqueline Ludwig denkt groß und wünscht sich, dass eine große Institution endlich eine digitale Lösung entwickelt, die Beistand bei Recht, Pflege, Versicherung und Amtswegen bietet und KUG mitnimmt. Eine Koppelung an Apps wie „Alles Clara“ wäre denkbar, an Katastrophenschutz-Systeme, Sozialversicherung etc. Jette Lange ergänzt: „Der Klimawandel verändert sich, die Technik und die Pflege ebenfalls – vielleicht wird eines Tages der Hitzealarm mit dem Smart Home gekoppelt.“ Was jedenfalls keine gute Idee ist: Die besonderen Bedürfnisse und die systemische Bedeutung von Pflegenden in privaten Haushalten weiter ignorieren.
Astrid Kuffner