Bezwetschkigung mit Schulbuchklassiker

Mit seiner experimentellen Lyrik veränderte Ernst Jandl das Publikum. Das Duo Anna Mabo und Clemens Sainitzer führt beim Festival Glatt & Verkehrt demnächst 14 Songs aus seinen Gedichten auf.
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Anna Mabo & Clemens Sainitzer Copyright: Ingo Pertramer

Ein Dichter liest vor 4000-köpfigem Publikum aus seinen Werken – und erntet dafür Stürme der Euphorie. Aus heutiger Perspektive erscheint dies fast unvorstellbar. Doch als der Wiener Ernst Jandl (1925-2000) vor 50 Jahren an der Londoner International Poetry Incarnation, einem Poesie-Festival, teilnahm, geschah genau das. Davon legt ein Mitschnitt  Zeugnis ab. Noch während Jandl, der ungefähr bei Minute 3.35 auf die Bühne tritt, klatschen und jubeln die Gäste.

Wolfgang H. Wögerer, Wien, Austria., CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons
Ernst Jandl bei einer öffentlichen Lesung im Jahr 1974 in Wien
Copyright: Wolfgang H. Wögerer, Wien, Austria., CC BY-SA 3.0

Kraft der Poesie

Welche Kraft Poesie entfaltet, wenn sie performt wird: Das wird sich auch am 26. Juli zeigen, wenn die Musikerin Anna Mabo und der Cellist Clemens Sainitzer beim Festival Glatt & Verkehrt ihre Lieder nach Ernst Jandl aufführen. Anlass für den Ö1-Kompositionsauftrag, den die beiden erhielten, ist der 100. Geburtstag des Experimentallyrikers, der drei Tage zuvor auch mit einem Auftritt von Christian Muthspiel mit dem Orjazztra Vienna gewürdigt wird.

Anna Mabo und Clemens Sainitzer setzten sich monatelang mit der Dichtung des – längst zum Schulbuchklassiker gewordenen – Autors auseinander und haben 14 Songs in sechs Blöcken arrangiert – eine Collage aus Gedichten von Ernst Jandl, jeweils thematisch gruppiert. „Es gibt einen großen Todesblock“, erzählt Anna Mabo bei einem Treffen im Wiener Café Rüdigerhof. Andere Schwerpunkte drehten sich um Familie, Natur, Liebe und Müdigkeit. Mit sichtlicher Freude rezitiert sie dabei aus einem der Gedichte: „ich bekreuzige mich vor jeder kirche ich bezwetschkige mich vor jedem obstgarten wie ich ersteres tue weiß jeder katholik wie ich letzteres tue ich allein.“

Cellospielen à la Jandl

Wie sind sie an die Songs herangegangen? Clemens Sainitzer schildert es so: „Wir haben Texte genommen und mit den Instrumenten dazu gejammt. Das hat sich alles von selbst ergeben, es war nicht so schwer.“ Mabo ergänzt: „Clemens spielt Cello so, wie Ernst Jandl gedichtet hat. Er hat eine große Lust am Erfinden, am Suchen, am Hinterfragen von Formen. Das geht aber nie auf Kosten der Freude an der Poesie. Außerdem ist es für ihn auch nicht schlecht, wenn es den Leuten gefällt.“

Anna Mabo & Clemens Sainitzer
Musikerin Anna Mabo & Cellist Clemens Sainitzer führen beim Festival Glatt & Verkehrt Festival
ihre Lieder nach Ernst Jandl auf.

Anna Mabo selbst, die seit 2019 drei Alben herausbrachte und auch als Regisseurin arbeitet, besticht in ihren Songtexten mit ihrem Hang zum Humor und zur Melancholie ebenso wie mit der Knappheit ihrer Sprache. Etwa wenn sie in einem Lied ironisch First-World-Probleme beklagt und fragt: „Wo nehm‘ ich meinen Abgrund her?“ Mit Witz punkten Zeilen wie: „Ich bin eh die schärfste Sau, der Ferrari aus dem Gemeindebau“.

„bist eulen?“

Umgekehrt war Ernst Jandl selbst der Musik verbunden. Einerseits entwickelte seine Lyrik eine eigene Musikalität – etwas, das jede*r feststellen kann beim Rezitieren seiner Texte. Andererseits wurden seine Gedichte schon zu Lebzeiten vertont, vor allem von Jazzern. 1985 erhielt die vom Vienna Art Orchestra, ihrem Leiter Mathias Rüegg und der Sängerin Lauren Newton eingespielte Schallplatte „bist eulen?“ sogar den Preis der Deutschen Schallplattenkritik. Doch mit dem, was es schon gibt, haben sich Anna Mabo und Clemens Sainitzer nicht groß befasst: Schließlich müssen sie ihren eigenen Zugang finden.

So populär Ernst Jandl bei Teilen des Publikums war, stieß er dennoch in der früheren Phase seines Schaffens auf teils erbosten Widerstand. Wegen des Bands „Laut und Luise“, in dem er unter anderem das legendäre Gedicht „schtzngrmm“ publizierte, wurde 1966 der Verlagsleiter Otto F. Walter gekündigt. Und schon zuvor hatte ein Redakteur der Zeitschrift „neue Wege“ seinen Job verloren, weil er ein Jandl-Gedicht abdrucken ließ. Man beklagte, dass Jandl die Jugend verderbe, dass seine Lyrik eine unerträgliche Provokation sei. Derart polarisieren kann Dichtung heute kaum noch. „Ich würde gern denken, dass die Gesellschaft toleranter ist. Es kann aber auch sein, dass es den Leuten wurschter ist“, überlegt Anna Mabo. Aber möglicherweise ist es auch so, wie Sainitzer sagt: dass beides zutrifft.

Die Kraft, das Publikum zu verändern

Ernst Jandl hat mit seiner Poesie den Kunstbegriff weiterentwickelt – und auch das Publikum selbst. 1999, im Jahr vor Jandls Tod, meinte der Literaturwissenschaftler Klaus Siblewski in einem längeren Gespräch mit ihm, er könne stolz darauf sein, mit avantgardistischer Literatur breite Anerkennung gefunden zu haben. Stolz wies der Dichter zwar von sich, aber, so sagte er: „Vielleicht könnte man von einer gewissen Befriedigung darüber reden, dass künstlerische Erscheinungen, auf welchem Kunstgebiet auch immer, die vom reaktionären Publikum total missverstanden und abgewertet wurden, dass sie die Kraft hatten, das Publikum zu verändern.“

Die Kunst verändert ihr Publikum: ein schöner Gedanke.

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Glatt & Verkehrt

Konzertabend 4

Sélène Saint-Aimé String Trio; danach Anna Mabo & Clemens Sainitzer: Lieder nach Ernst Jandl, Samstag, 26. Juli 2025, 19 Uhr; Tickets erhalten Sie hier

Konzertabend 1

Christian Muthspiel und Orjazztra Vienna: Vom Jandln zum Ernst, danach: Puuluup, Mittwoch, 23. Juli 2025, 19 Uhr, Tickets erhalten Sie hier

Beide Konzerte finden bei den Winzern Krems statt (Sandgrube 13, 3500 Krems)

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