Was macht der Mann auf der Leiter in diesem weiß getünchten Ausstellungsraum? Warum bewegt er sich so eigenartig? Betrachtet man die Aufnahme der Performance „Licked“ länger, so wird bald klar: Thomas J Price, Künstler, Jahrgang 1981, gebürtiger Londoner, schleckt systematisch die Wände des Raums ab. 2001 fand die Performance statt, drei Tage dauerte sie – Price im Stehen, im Sitzen, im Liegen. Die Performance-Doku leitet die Ausstellung von Price in der Kunsthalle Krems ein („Thomas J Price. Matter of Place“),die erste Einzelausstellung des Künstlers in Österreich; kuratiert hat sie Florian Steininger, künstlerischer Leiter der Kunsthalle Krems.
Porträt der Betrachter*innen
Ursprünglich gedacht als „unsichtbares Porträt des Künstlers“ (Florian Steininger), hinterließ „Licked“ dann doch – fast malerische – Spuren: Mit der Zeit entstanden an der Zunge Wunden, die blutig angereicherte Flächen produzierten. Was sieht man? Und was nicht? Diese Frage spielt eine große Rolle in Price‘ Werk. Weithin sichtbar jedenfalls sind jene Denkmäler weißer Herrscher, mächtiger Männer, die europäische Städte bevölkern. Price setzt ihnen Skulpturen jeglicher Größe von „ordinary people“ – also „durchschnittlichen Menschen“ – gegenüber. Sie sind keine Abbildungen bestimmter Personen, oder doch? „Es sind schon Porträts”, sagte Price in einem Interview, „aber die der Betrachter*innen. Diese bringen ihr eigenes Verständnis und ihr Wertesystem mit“. In der Kunsthalle Krems stehen die „ordinary people“, Alltagsheld*innen, entspannt in Jogginghosen herum, haben mal die Hände in den Hosentaschen vergraben, fotografieren sich dann wieder mit dem Mobiltelefon. An einer Stirnwand in der Säulenhalle – also einem der besonders prominenten Orte der Kunsthalle – prangt auf einem kleinen, fast nebensächlich erscheinenden Brett eine Büste en miniature. Inspiriert von Londoner Busfahrer*innen und dem Ausschnitt, den das Busfenster von ihrem Körper preisgibt, begann Price vor rund 20 Jahren, seine Skulpturen zu modellieren. Fast immer stellen sie Schwarze Menschen dar, die in der Kunst, aber auch im öffentlichen Raum unterrepräsentiert sind. So war seine Skulptur „Reaching Out“, eine 2,7 Meter junge Frau, die auf ihrem Handy tippt, die erste Figur einer Schwarzen Frau von einem Schwarzen Künstler in Großbritannien – im Jahr 2020. Ein Abguss davon steht nun vor der Kunsthalle.
Bronzene Autoritäten
Für seine Arbeiten orientiert sich Thomas J Price an traditioneller Bildhauerei. Schon als Kind, erzählte er einmal, habe er immer etwas in den Händen gehabt und geformt. Später reflektierte er, was welche Materialien suggerieren. „Gold macht sofort Eindruck auf uns“, analysierte er einmal. „Bronze wird immer in öffentlichen Denkmälern verwendet und steht für Macht.“ Aluminium dagegen suggeriere das Vorübergehende, werde mit Massenkonsum assoziiert. Alle diese Materialien finden auch Einsatz in seinen Skulpturen in der Kunsthalle Krems.
Thomas J Price produziert oft Skulpturen für den öffentlichen Raum. Dabei verwendet er Bronze. „Ich verwende Bronze und bin mir dabei der Konnotationen, der Assoziationen des Materials, bewusst und weiß, dass es für Autorität und eine offizielle Sicht der Dinge steht“, sagt er in einem Gespräch, das im Ausstellungskatalog der Kunsthalle abgedruckt ist. „Ich möchte das ein bisschen durcheinanderbringen und dem Material meine Bildwelt überstülpen und es den Leuten überlassen herauszufinden, was da vor sich geht.“ Auch in Krems installierte Price, den mittlerweile die international gewichtige Galerie Hauser & Wirth vertritt, vor der Kunsthalle eine riesige Skulptur. „Die Idee, fiktive Personen zu verwenden, ist der Versuch, die Idee des Porträts und die Wertesysteme dahinter zu untergraben, die dann oft der Vorstellung des Denkmals eingeimpft sind oder darin weitergetragen werden.“
Strähne für Strähne
Die klassische Ausdrucksweise zieht sich durch Price‘ Werk: Nicht nur das Material der Skulpturen, sondern auch ihre Machart lehnt sich an klassische Bildhauerei an: Zöpfe liegen sorgfältig geflochten, Strähne für Strähne, am Kopf; Falten der Kleidung treten in ein Spiel mit dem darunterliegenden Körper, wie in hellenistischen Skulpturen. Sein Wissen darüber erarbeitete sich der Künstler, der am Chelsea College of Arts sowie am Royal College of Art in London studierte, auch durch kunsthistorische Literatur – die freilich ebenso weiß geprägt ist, wie die Museen es sind. Wie er diesen Kanon hinterfragt und aufsprengt, zeigt sich in Fotografien, in denen er Seiten aus Büchern mit Skulpturen fotografiert, während seine Hände und Unterarme diese umtanzen; ebenso in seiner Ausstellung im Victoria and Albert Museum in London, in denen sich seine Skulpturen in die permanente Aufstellung einfügten.
Im Vorjahr platzierte Thomas J Price am Bahnhof von Rotterdam eine riesige Bronze – eine Frau in Jogginghosen, „Moments contained“. Weiße Menschen beklagten sich tatsächlich darüber, dass diese nicht die Bevölkerung von Rotterdam repräsentiere, trotz des hohen Anteils an Migrant*innen in der Stadt. Reaktionen wie diese sind indirekt Teil des Kunstwerks. „Schöpfer und Betrachtende sind miteinander verflochten“, so Price.
Wer ist Teil der Gesellschaft, wer nicht? Wer bestimmt darüber? Wer entscheidet, welches Wertesystem gültig ist? Drängende Fragen, die Thomas J Price neu aufwirft.
Nina Schedlmayer