Die Szenerie ist rätselhaft und dramatisch gleichzeitig: Ein Krieger mit Helm hält in äußerster körperlicher Anspannung einen Bogen; ein anderer, seinen Körper mit einem Schild schützend, eilt ihm entgegen. Sie werfen lange, expressive Schatten. Nein, die Szene stammt nicht aus „Spartacus“ oder einem anderen Monumentalfilm. Sondern sie spielt in der Gipssammlung der Universität Wien. Die Fotografin Elfriede Mejchar hauchte den beiden Figuren Leben ein.
100 Jahre Elfriede Mejchar
Eine Auswahl ihrer Arbeiten zeigt nun die Landesgalerie Niederösterreich („Elfriede Mejchar. Grenzgängerin der Fotografie“, 13.4.2024 bis 16.2.2025, kuratiert von Edgar Lissel und Alexandra Schantl). Elfriede Mejchar verstarb 2020 und würde heuer ihren 100. Geburtstag feiern. Ein Jubiläumsjahr, das die Schau in der Landesgalerie feiert, gemeinsam mit dem Wien Museum MUSA und dem Museum der Moderne Salzburg, die ebenfalls Mejchar-Ausstellungen zeigen. Zudem brachten die drei Häuser eine gemeinsame Publikation heraus, die sich Mejchars facettenreichem Werk nähert. Und erstmals wird der Elfriede-Mejchar-Preis für Fotografie verliehen: an Lisa Rastl, deren „Verschränkung von angewandter und künstlerischer Fotografie“ an das Werk der Patronin erinnert, so die Jurybegründung.
Leidenschaft für Industrie
Diese Verschränkung durchdringt Mejchars gesamtes Oeuvre. Vierzig Jahre lang war sie im Auftrag des österreichischen Bundesdenkmalamts damit beschäftigt, Statuen und Treppenaufgänge, Altäre und Kruzifixe, Kreuzgänge und Krypten abzulichten; ebenso fotografierte sie für die TU Wien technische Bauwerke und Industriedenkmäler. An diese Auftragsarbeiten ging sie mit einem besonderen Blick heran, wie Kuratorin Alexandra Schantl erzählt, die zu den wohl besten Kenner*innen von Elfriede Mejchars Oeuvre gehört. Die Ausstellung in der Landesgalerie Niederösterreich zeigt Auftragsarbeiten ebenso wie freie Kunst. Den Industriedenkmälern beispielsweise widmete sie sich, so schreibt Schantl in ihrem Katalogaufsatz, „mit der gleichen Leidenschaft, die sie bei ihren selbst gewählten Aufträgen antrieb.“ Zum Beispiel bei den Bildern vom Kriegsflugplatz in Markersdorf nahe St. Pölten, den sie 1946 fotografierte: Da liegt ein kaputter Flieger wie ein toter Vogel am Boden, ratlos ragen Ruinen in die Höhe. Später kehrte sie immer wieder dorthin zurück, beobachtete, wie die Natur den Ort zurückeroberte.
Eine andere – nicht beauftragte – Arbeit sollte später eine Ikone österreichischer Fotogeschichte werden: „Simmeringer Haide und Erdberger Mais“ (1967-1976). Da nahm sie an der Peripherie Wiens Gasometer und Gewächshäuser auf, „dort, wo Stadt und Land zusammenstoßen“, wie sie es selbst gern ausdrückte. Die Nahtstelle zwischen Natur und Industrie, zwischen gewachsener und gebauter Welt, jener Ort, an dem Gräser und Gebäude ineinander wuchern, interessierte sie.
Aus der Soldatenzeitung gelernt
Ihre Kindheit und Jugend, ohne Vater und in schwierigen finanziellen Verhältnissen, verbrachte die Fotokünstlerin zwischen Wien, Niederösterreich und Norddeutschland. Das erste Mal begegnete sie der Kunst, so erzählte sie einmal, als Kind im Wiener Belvedere, wo ihre Tante einst arbeitete. In den 1940er-Jahren erlernte sie in Deutschland das Fotohandwerk, kehrte dann nach Wien zurück. Während sich ihre heimischen Kolleg*innen seinerzeit eher für die europäische Reportagefotografie interessierten, etwa die eines Henri Cartier-Bresson, blickte sie selbst lieber über den großen Teich. „Als ich während der Besatzung in Norddeutschland lebte, arbeitete mein Stiefvater dort für die Amerikaner“, erzählte sie einmal. „Diese brachten eine Soldatenzeitung heraus – durch sie lernte ich amerikanische Fotografie kennen, später auch durch das Life-Magazine.“
Ihre Arbeit für das Denkmalamt sicherte sie ökonomisch ab; sie reiste quer durch Österreich und fotografierte dabei unentwegt, was ihr ansonsten so begegnete: Hotelzimmer, in denen sie ihre Spuren hinterließ, Kleinarchitekturen, aber auch Vogelscheuchen und Strommasten – Jahrzehnte bevor die Lost-Places-Fotografie Coffeetable-Books und Social Media eroberte. Alexandra Schantl schreibt: „Im Laufe ihrer beruflichen Tätigkeit für das österreichische Bundesdenkmalamt, die sich über einen Zeitraum von vierzig Jahren erstreckte, verinnerlichte Elfriede Mejchar ein ‚Archivdenken‘ – wie sie es nannte –, das auch unabhängig von den dienstlichen Aufträgen zu einer wesentlichen Triebfeder ihres fotografischen Schaffens wurde. Es drängte sie nachgerade dazu, ‚Dahinschwindendes zu bewahren, indem sie es photographiert‘, so Otto Breicha.“
Das Hässliche im Schönen
Das „Moment des Vergänglichen“ und das „Hässliche des Schönen“ habe Mejchar gesucht, so Schantl. Das stellt sich besonders in den späteren Stillleben heraus: detailscharfen Bildern von Pflanzen, von denen manche längst ausgetrocknet sind. Die meisten dieser Arbeiten entstanden zu einer Zeit, da Elfriede Mejchar bereits pensioniert war. Ebenso wie ihre Collagen, darunter die Serie „Die geliehene Identität“ (1988-1990), in denen sie Frauenbilder aus Modezeitschriften arrangierte, durchaus in einem hintergründig-feministischen Sinn. So erfand sie ihre Kunst im höheren Alter noch einmal neu. Das umfangreiche Werk von Elfriede Mejchar hat eine umfassende Aufarbeitung wahrlich verdient.
Nina Schedlmayer