Wie oft ging man an diesem Wettlokal bereits vorbei, ohne es weiter zu beachten? Das kleine Haus in der Dinstlstraße 3 nahe dem Bahnhof besitzt keine besonderen Merkmale, außer vielleicht, dass es ästhetisch etwas fragwürdig erscheint. Dabei stand an diesem Ort einst eine Synagoge, errichtet in den 1890er-Jahren nach den Plänen des Wiener Architekten Max Fleischer. Im September 1938 beobachteten hier zahlreiche Schaulustige, wie Juden und Jüdinnen gedemütigt wurden – und beteiligten sich daran. Das Novemberpogrom im selben Jahr überlebte das Haus und blieb auch während des Holocaust erhalten. Doch ein späterer Eigentümer riss sie 1978 ab. Was für ein Verlust!
Zeitgeschichte umfassend darstellen
Mehr über die Synagoge Krems, die heute so schmerzlich fehlt, erfahren Interessierte in der Broschüre „Krems macht Geschichte“ sowie demnächst, ab 4. April, online. 24 Orte in Krems und Umgebung finden sich hier, versammelt zu einem Zeitgeschichteweg. Es ist das Ergebnis eines umfassenden Projekts mit dem Ziel, „Zeitgeschichte umfassend darzustellen“, wie Gregor Kremser, Leiter des Kulturamts Krems, erzählt. Das handliche Booklet, erhältlich unter anderem beim museumkrems, verzeichnet eine ganze Reihe Mitwirkender – Historiker*innen ebenso wie Kulturvermittler*innen und Grafiker*innen. „Das Anliegen war, bereits vorhandenes Wissen multiperspektivisch darzustellen“, sagt Kremser.
Vom Erinnern und Zerstören
„Krems macht Geschichte“ ist in sechs Kapitel gegliedert: „Vom Erinnern“, „Vom Fortdauern“, „Vom jüdischen Leben“, „Vom Verfolgen und Bestrafen“, „Vom Widerstand“ und „Vom Zerstören“ – einige der hier verzeichneten Orte fanden auch schon Eingang auf ask – art & science krems, etwa die Tabakfabrik und der jüdische Friedhof. Wie bei der Synagoge macht er auch an anderen Orten sichtbar, was verschwunden ist – etwa der Obelisk mit dem roten Stern, ein Sowjetdenkmal, das der damalige Bürgermeister 1947 am Südtirolerplatz enthüllte. Oder der Stalag XVII B in Gneixendorf, eines der größten Kriegsgefangenenlager im Nationalsozialismus. Verschwunden sind auch die Bewohner*innen mancher Stadthäuser – vertrieben und ermordet. Zum Beispiel der jüdische Kaufmann Josef Pisker, der sein Geschäft in der Sparkassengasse führte und bereits 1938 emigrierte, ebenso wie, eine Straße weiter, die Nachfahren des 1930 verstorbenen Albert Neuner, Besitzer eines Wäschegeschäfts, das Kremser Bürger*innen 1938 plünderten. Die Witwe überlebte Theresienstadt, zwei der drei Kinder sowie ein Enkelkind fielen dem NS-Regime zum Opfer.
Hitlergruß im Brauhofsaal
Die sorgsam zusammengestellten und fundierten Texte verweisen freilich nicht nur auf Opfer, Mitläufer*innen und Täter*innen der NS-Diktatur, sondern auch an den problematischen Umgang damit in der Nachkriegszeit. Man erfährt auch, dass die Stadt 1959 dem einstigen Wehrmachtsgeneral Karl Eibl ein Denkmal errichtete – das einzige im deutschen Sprachraum –, und dass sie noch 1990 eine Gasse nach der offen nationalsozialistischen Heimatdichterin Maria Grengg benannte; mittlerweile trägt diese jedoch den Namen der Reformpädagogin Margarete Schörl.
Historische Fotografien aus Archiven – unter anderem jenem des verdienstvollen Zeithistorikers Robert Streibel – ergänzen die Texte und geben eine Ahnung davon, wie es an manchen Orten aussah. Manche von ihnen sprechen sie auf emotionaler Ebene an: etwa das Foto vom deprimierenden Abriss der Synagoge, die historische Aufnahme von einer NS-Kundgebung im Brauhofsaal, alle mit zum Hitlergruß gestreckten Händen, oder jenes herzförmige Andenken, das die Gefängnisaufseherin Hedwig Stocker von einstigen Inhaftierten erhielt: „Ihre unparteiische Gerechtigkeit war uns Hilfe und Trost“, bedankt sich eine davon bei Stocker. Sie verhalf Gefangenen zur Flucht und versteckte eine Widerstandskämpferin. Heute ist ein Park nach ihr benannt.
Mit den Texten von „Krems macht Geschichte“, dessen Stationen demnächst grüne Wimpel besser kenntlich machen, geht man anders durch die Stadt: Die Zeitgeschichte wird lebendig und legt sich wie ein Netzwerk über die Häuser, Straßen, Denkmäler und Parks. Nie wieder wird man an dem Wettbüro in der Dinstlstraße 3 vorübergehen, ohne daran zu denken, wie ganz normale Bürger*innen hier ihre Mitmenschen demütigten.
Nina Schedlmayer