ask – art & science krems: Herr Lehmann, Herr Hoffer, wir stellen die sogenannte Gretchenfrage aus Goethes Faust gleich als erste: Wie habt ihr’s mit der Religion?
Karsten Lehmann: Ich bin hier Religionswissenschaftler und Soziologe. Ich habe es mit der Religion auf einer professionellen Ebene zu tun. Ich beschäftige mich mit Religion als kulturellem Gegenstand.
Andreas Hoffer: Ich bin institutionell an keine Kirche gebunden, aber mich haben Religionen schon immer interessiert, als Ausgangspunkt für das Zusammenleben von Menschen.
ask – art & science krems: Herr Lehmann, können Sie uns erläutern, wie Sie sich Religionen wissenschaftlich nähern?
Lehmann: Man kann sich Religion auf vielfältigen Wegen wissenschaftlich nähern. Theologinnen und Theologen nähern sich der Religion z.B. in der Systematischen oder der Praktischen Theologie an. Kirchenhistoriker*innen sind auch häufig in der Theologie verortet. Sie arbeiten ähnlich den historisch arbeitenden Religionswissenschaftler*innen. Diese wiederum beschäftigen sich mit Religion meist als einem empirischen, kulturellen Gegenstand. Religionssoziologinnen und -soziologen fokussieren zumeist auf die Gegenwart, und die Religionswissenschaft insgesamt betrachtet Religion als globales Phänomen.
ask – art & science krems: Wozu dient dem Menschen seine Religion? Gibt es, global gesehen, Gemeinsamkeiten in Bezug darauf, was sie brauchen und suchen?
Lehmann: Das kann ich als Wissenschaftler nicht pauschal beantworten. Es gibt sehr viele unterschiedliche Theorien und Begriffe davon, was Religion ist. Der bekannte Religionswissenssoziologe und Werteforscher Ronald Inglehart, der im Mai 2021 verstorben ist, schrieb zwei Bücher mit Pippa Norris über das Religiöse und das Säkuläre. Im Hintergrund stehen dabei die Daten des World Value Surveys und im Zentrum seiner theoretischen Überlegungen die Idee, dass Religion uns hilft, mit Problemen umzugehen. Eine andere etablierte Herangehensweise wäre: Religion hilft uns – auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen –, die Welt zu verstehen. Mit Blick auf die ganze Welt sehen wir, dass es innerhalb dessen, was als Religion bezeichnet wird, sehr unterschiedliche Positionen gibt.
ask – art & science krems: Andreas Hoffer, Sie kuratierten in der Kunsthalle Krems die aktuelle Ausstellung „7 Todsünden. Aktuelle Kommentare“. Warum macht man im 21. Jahrhundert eine Schau über einen moralischen Kanon aus dem Mittelalter?
Hoffer: Es gibt viele Kunstausstellungen, die wenig zu sagen haben und kaum Menschen abholen. Die sieben Todsünden haben mit dem Zusammenleben von Menschen zu tun, und wir sehen menschliche Schwächen wie Zorn, Trägheit oder Völlerei bei uns selbst. Ich fand es spannend, mich mit moralischen Setzungen zu befassen. „Die sieben Todsünden“ kennen alle als Begriff, sie kommen sogar in der Werbung vor.
ask – art & science krems: In Ihrem Essay im Ausstellungskatalog heißt es, dass „die sogenannten Todsünden von der katholischen Kirche auch zur Aufrechterhaltung der ihnen genehmen gesellschaftlichen Strukturen missbraucht wurden“. Dennoch werden sie kulturell stark aufgegriffen, von den Volksschauspielen Telfs bis zu Anime-Serien. Wie passt das zusammen?
Hoffer: Es ist ein präsenter Begriff, mit dem jeder etwas anfangen kann. Ein wenig hat das mit Horror und Schauer zu tun, was immer etwas Anziehendes hat: Im Gegensatz zu den zehn Geboten sind die Todsünden mit Strafen bedroht. Bei unserer Ausstellung vermissten manche sogar Horrorszenarien, etwa die von Hieronymus Bosch. Mich selbst interessierte vor allem, ob Künstlerinnen und Künstler damit etwas anfangen können. Da war ich zunächst unsicher. Aber ich bekam keine einzige Absage. Auch nicht von den Literat*innen, die Beiträge für Ausstellung und Katalog schrieben.
ask – art & science krems: In der Ausstellung wird ersichtlich, dass die sieben Todsünden nicht immer negativ konnotiert sein müssen. Beispielsweise nimmt Christa Biedermann die Wollust zum Anlass, für befreite weibliche Sexualität zu plädieren. Welche Schlüsse zogen Sie daraus?
Hoffer: Ich fand interessant, dass die jüngeren Artists durchgängig „Stolz“ und „Lust“ als Thema wählten und beide ins Positive wendeten. Christa Biedermann ist interessant, weil sie eine der älteren Künstlerinnen in der Ausstellung ist und im Feminismus der 1970-er-Jahre sozialisiert wurde. Sie setzt sich mit Frauen auseinander, die sich gegen den Mainstream stellten mit der Forderung: Wir haben ein Recht auf unsere Lust als Frauen. Die Literaturnobelpreisträgerin Hertha Müller fragte ich auch an. Sie sagte zunächst ab. Ihre Begründung war: Die katholische Kirche habe Frauen so viele Jahrhunderte vorgemacht, dass Lust eine Sünde sei. Zwei Wochen später schrieb sie mir, dass sie die Sache nach längerem Nachdenken doch interessant fände. Sie lieferte dann eine recht große Arbeit zu den sieben Todsünden.
ask – art & science krems: Wie sehr taugen die sieben Todsünden – Stolz, Habgier, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit – noch als Wertekanon für das 21. Jahrhundert?
Hoffer: Bei meiner ersten Recherche stieß ich auf die Umfrage des britischen Radiosenders radio 4 von 2005, wo Hörer*innen gefragt wurden, welche Todsünden für sie relevant seien, was sie damit verbänden. Es wurden nie alle sieben genannt. Und es kamen viele ganz andere Begriffe dazu, die von den Befragten als Todsünde betrachtet wurden.
ask – art & science krems: Welche zum Beispiel?
Hoffer: Ganz unterschiedliche, zum Beispiel Egoismus, Heuchelei oder Zynismus. Mich selbst interessiert die Trägheit am meisten. Meiner Meinung nach ist eine Schwäche in unserer überinformierten Gesellschaft, dass wir uns nicht lange wirklich für ein Thema interessieren können, weil es so schnell von etwas anderem abgelöst wird. Den Künstler*innen unserer Ausstellung schien die Trägheit aber weniger interessant. Diese Beobachtung machte auch der Choreograf Eric Gauthier: Für seine Stuttgarter Dance Company lud er Kolleg*innen zu Performances für sein Stück „The Seven Sins“ ein, das ich im Festspielhaus St. Pölten sah. Auch hier war die Trägheit am schwierigsten zu vergeben. Schließlich setzte sie Aszure Barton um, sensationell! Bei den Literat*innen war am Ende nur noch die Habgier übrig. Ich habe sie Ana Marwan zugewiesen. Sie fragte zuerst nach einer Alternative. Die gab es aber nicht – und nach ein paar Tagen meinte sie, sie würde sich gerne daran abarbeiten.
ask – art & science krems: Also die Kunst reibt sich durchaus an der Vorstellung von Todsünden. Wie würden Sie, Herr Lehmann, sie als Wertekompass einschätzen?
Lehmann: Aus den schon zuvor genannten World Value Surveys wissen wir, dass Werte eine große Rolle spielen. Viele Werte sind sogar universell: Wir wollen, dass es unseren Kindern besser geht als uns – das ist auf der ganzen Welt so. Aus Perspektive der katholischen Theologie geht es beim Konzept der Todsünden nicht einfach nur um Werte, sondern in erster Linie um Inklusion und Exklusion. Die Idee ist folgende: Wer eine Todsünde begeht, verlässt die Gemeinschaft der Gläubigen. Das Konzept gibt es in anderen Religionen nur bedingt. Nur in wenigen Religionen sind die Institutionen so klar wie in der katholischen Kirche.
ask – art & science krems: Woran glauben junge religiöse Menschen in Österreich heute?
Lehmann: In der TRANSMISSION-Studie fragten Kolleg*innen aus vier Pädagogischen Hochschulen in Österreich junge Menschen danach, was sie unter Religion verstünden. Dabei erhielten wir zwei Hauptergebnisse: Entweder ist Religion für die Jugendlichen einem Verein vergleichbar, der Freiwilligen Feuerwehr etwa. Oder sie gehört einfach zum Leben auf dem Lande: Menschen gehen in die Kirche, weil der Vater Bauer ist und aus Tradition beispielsweise zum Erntedankfest geht. Bei muslimischen Jugendlichen sahen wir, dass sie sich sehr an Handlungsweisen orientierten: Alkoholkonsum wird beispielsweise dezidiert als schlecht wahrgenommen. Diese Beobachtung machten wir auch bei anderen, beispielsweise protestantischen Gläubigen.
ask – art & science krems: Wie reflektieren Schüler*innen und Jugendliche die Ausstellung in der Kunsthalle?
Hoffer: Im Kontext eines anderen Projekts lud ich Schüler*innen aus dem 20. Wiener Bezirk ein. Am besten gefielen ihnen die Liegeflächen am Ende der Ausstellung, einen „Gedankenraum“, wo man sich ausruhen kann. Diese Schüler*innen haben sonst nie die Chance, in ein Museum zu kommen. Zwei, drei von ihnen legten sich unglaublich ins Zeug. Eine Schülerin wollte am Schluss unbedingt noch einmal in den Raum mit den stillen Arbeiten von Herta Müller, an der wir zuvor ihrer Meinung nach zu schnell vorbei gegangen waren.
ask – art & science krems: Daraus könnte man ableiten, dass Reflexion wichtig ist. Gehören Reden, Rituale und Religion zusammen, und liegt darin auch etwas Verbindendes?
Lehmann: Es gibt schon die Haltung, dass sich Menschen über die Religion voneinander abgrenzen – nach dem Motto: Wir sind religiös und ihr nicht. Andererseits schicken aber auch manche jüdischen und muslimischen Eltern ihre Kinder auf katholische Schulen, weil diese als religiös wahrgenommen werden. Auf die Frage, welche Gemeinsamkeiten es zwischen den Religionen gibt, antworten manche mit der Goldenen Regel. Ich würde es so umschreiben: Manche religiösen Milieus betonen eher die Gemeinsamkeiten und andere die Differenzen. Mir persönlich sind erstere meist sympathischer.
Hoffer: Dazu fällt mir noch etwas ein von dem Ausstellungsbesuch mit der Schulklasse. Im ersten Raum behandelt der Künstler Dan Perjovschi das Thema assoziativ. Die erste Reaktion eines Schülers war: Wir sind muslimisch, was interessieren uns die sieben Todsünden? Dann betrachteten wir Perjovschis Wandbild näher, wo das Thema breit angesprochen wird: Von der Trägheit geht es zu Zynismus, und irgendwann landet man bei Fridays for Future als positives Beispiel, dagegen anzugehen. Damit sprang der Schüler immer mehr in die Diskussionen hinein: Die Todsünden interessierten ihn nicht, die Ideen dahinter aber schon.
ask – art & science krems: Die Erzählung zeigt auch, dass wir in einer religiös vielfältigen Gesellschaft leben. Haben Menschen heute bei der Hinwendung zur Religion mehr Auswahl als vor 50 Jahren?
Lehmann: Auf jeden Fall. Heute findet die Auseinandersetzung mit religiöser Vielfalt nicht nur in physischer Präsenz – etwa in einer Messe – statt, sondern auch in digitalen Medien. Das verändert die Art und Weise des Umgangs mit Religionen grundsätzlich. Dazu kommt, dass wir unterschiedliche religiöse Traditionen präsent haben. Und schließlich herrscht innerhalb von Religionen ein hoher Grad an Vielfalt.
ask – art & science krems: Dennoch geht beispielsweise die Zahl der Christ*innen in Mitteleuropa zurück. Verliert Religion an Bedeutung?
Lehmann: Inglehart machte kurz vor seinem Tod eine grundsätzliche Wende. Bis Mitte der 2010er-Jahre folgerte er aus seinen Studien, dass Religionen strukturell ab-, aber numerisch zunehmen. Inglehart meinte, dass sich Religion mit Problemen auseinandersetze, und dass wir z.B. in Europa gegenwärtig weniger existenzielle Probleme haben als vor 100 Jahren – mit besserer Medizin und einem Sozialsystem beispielsweise. Weil in den USA letzteres nicht so gut funktioniert, gibt es dort mehr Religiöse als hier. In seiner letzten Studie sagte Inglehart jedoch, dass das nicht mehr gelte. Denn die Menschen wollen selbst entscheiden – etwa mit Blick auf ihre Sexualität. Daher funktionieren manche Wertvorgaben nicht mehr. Und so nehmen die Religionen auch numerisch ab.
Astrid Kuffner, Nina Schedlmayer