Therese Brandhuber aus Feldkirch ritzte sich 1895 mit einer Mistgabel, Erna Freiin, Hilfsschwester beim Roten Kreuz, infizierte sich 1919 im Lazarett, Leopold Lugmayr schnitt sich 1921 auf dem Feld mit dem Messer, Jakob Kolletschka verletzte sich mit dem Skalpell bei einer Leichenöffnung, Ignaz Semmelweiß infizierte sich bei einer Operation. Muhammad Ali lebte 32 Jahre mit Parkinson, kam mit Atemnot und Husten ins Krankenhaus und starb kurze Zeit später an einer Sepsis – wie alle vor ihm Genannten.
Bis heute stirbt weltweit jeder fünfte Mensch an einer Sepsis. Die Auslöser können unauffällig sein – ein eitriger Zahn oder eine unbemerkte Schnittwunde. Die Ursache können chronische Entzündungen sein. Oder akute, wie eine schwere Lungenentzündung oder eine infizierte Operationswunde. Wenn der Immunabwehr zu viel zugemutet wird, schaffen es Keime, sich über die Blutbahn im Körper auszubreiten. Eine lokal begrenzte Infektion wird systemisch, und es kommt zu einer Überreaktion des Immunsystems. Zum Opfer werden Säuglinge oder Jugendliche ebenso wie Menschen mitten im Leben und Greis*innen. Außerhalb vom Krankenhaus dauert es oft, bis die Symptome zur richtigen Diagnose verdichtet werden. Aber selbst in einer Intensivstation können nicht alle gerettet werden. Bis es zum Organversagen kommt, dauert es meist nur wenige Stunden.
Altbekannte Todesursache – neue Forschungsmethode
Wenn das Immunsystem auf zu hohen Touren läuft, weiten sich die Blutgefäße und werden löchrig. Die Herzfrequenz steigt, aber der Blutdruck fällt. Der Körper fühlt sich kalt an. Wenn Wasser ins Gewebe wandert (Ödem), fehlt es dem Blut, der Blutdruck sinkt weiter und es besteht die Gefahr eines Kreislaufschocks (septischer Schock). In Österreich erkranken jährlich rund 28.000 Menschen an einer Sepsis. Rund ein Viertel davon stirbt. Christoph Wiesner, Professor am Institut für Biotechnologie des IMC Krems, leitet mehrere Projekte, die diese häufige Todesursache erforschen. Im Labor werden wortwörtlich zelluläre Prozesse beleuchtet, die den Sturm im Immunsystem fördern oder abmildern könnten. Denn das Team setzt auf die Optogenetik, ein vergleichsweise junges biotechnologisches Verfahren. Für die Aktivierung der Prozesse von Interesse wird ein „Schalter“ in funktionale Proteine eingebaut, der auf Licht reagiert bzw. in der Intensität durch die Lichtstärke reguliert werden kann.
Diese Schalter (zum Ein-oder Ausschalten) stammen aus den Gensequenzen für lichtempfindliche Proteine anderer Organismen, die in experimentelle Zelllinien eingebaut werden. Die Arbeitsgruppe Wiesner arbeitet mit dem Code einer gelb-grünen Alge. Sie setzt die Bauanleitung für den LOV-Schalter (Light Oxygen Voltage) in den Code für zelluläre Rezeptoren mit ein: „Wir konzentrieren uns auf die Rezeptorgruppe der Toll-like-Rezeptoren (TLR), von denen wir zehn beim Menschen kennen. Diese TLR gehören zum angeborenen Abwehrsystem. Für unsere In-vitro-Experimente lassen sie sich mit blauem Licht aktivieren.“ TLRs haben die Aufgabe, Strukturen von Krankheitserregern zu erkennen und die Aktivierung von Genen zu steuern, die zur Immunabwehr gehören. Ein überaktiviertes Immunsystem, das mit einer sich ausbreitenden Infektion davongaloppiert, führt wiederum zu Sepsis und Organversagen.
Licht an – Sepsis aus?
In einem Projekt arbeitet Christoph Wieser mit Stammzellen, die zwei optogenetisch aktivierbare TLRs enthalten. Bei TLR3 und 10 wird vermutet, dass sie eine entzündungshemmende Wirkung haben. Sogenannte MSC-Stammzellen werden wiederum für verschiedene therapeutische Zwecke bereits erprobt. „Grundsätzlich können Rezeptoren auch über ihre entsprechenden Bindungspartner aktiviert werden. Aber das ist nicht so gut steuerbar, wie mit einem Lichtschalter. Oft erfüllen diese Liganden noch andere Aufgaben in einer Zelle, die dann ebenfalls losgetreten werden.“ Vom TLR10 kennt man die Bindungspartner noch gar nicht – mittels Optogenetik ist er dennoch aktivierbar. Nach der erfolgreichen Aktivierung in den Stammzellen gilt es, aus dem Zellinhalt diejenigen Bausteine zu identifizieren und zu testen, die eine Sepsis vielleicht verhindern könnten.
In einem anderen Projekt werden Gefäßzellen mit modifiziertem TLR4 durch Licht mit 470 Nanometer Wellenlänge stimuliert. TLR4 gehört zu den Agenten der Eskalation einer Entzündung: „Wir sehen uns im Labor Endothelzellen an, die die Innenwand der Blutgefäße auskleiden. Bei einer Sepsis brechen diese auf und die Blutgefäße werden löchrig.“ Dieser Prozess wird modellhaft in Echtzeit studiert: „Wir bauen neue, physiologisch relevante Testsysteme auf, um die Interaktion zwischen überreagierenden Immunzellen und dem Endothel zu erforschen. Davon erhoffen wir uns bessere Einblicke in ein voranschreitendes oder abwendbares Entzündungsgeschehen und Hinweise auf mögliche therapeutische Ansätze.“ Eine Hoffnung für viele: Zelluläre Entzündungshemmer, die sich spritzen lassen, bevor der Kreiskauf kollabiert und die Organe versagen.
Astrid Kuffner