Wenn Dieter Pahr, Leiter des Fachbereichs Biomechanik an der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften, über den körpereigenen Verbundwerkstoff spricht, kommt er ins Schwärmen. Ursprünglich studierte er Maschinenwesen an der TU Wien, kommt eigentlich aus dem Flugzeugbau. Im Gegensatz zu den Materialien der Luftfahrt, „ist Knochen lebendig, ständig einem Auf- und Abbau unterworfen, kann sich Belastungen anpassen und wenn er kleine Schäden hat, auch selbst heilen“.
Knochen sind ein „supersmartes Material, dessen Eigenschaften man gerne in Hightech-Anwendungen einfließen lassen würde“. Er besteht aus Apatitkristallen, die so steif sind wie Titan, dazwischen dem weichen Kollagen, aus Wasser und Proteinen. Im Inneren der Knochen werden rote Blutkörperchen gebildet, und sie dienen als interner Mineralspeicher, der entleert und befüllt werden kann. Wer in der Schwerelosigkeit lebt, wird selbst bei intensivem Training Knochen abbauen. Wer raucht, Alkohol trinkt, zu wenig Vitamin D bekommt, schwächt das supersmarte Material. Für jede biomechanische Untersuchung empfiehlt es sich jedenfalls, die individuelle Krankengeschichte der Patient*innen zu kennen, deren Knochen man vor sich hat.
Brückenschlag in die Biomechanik
Physik ist wichtig, um zu verstehen, wie ein Körper funktioniert. Die Schnittstelle von Maschinenbau und muskuloskelettaler Biomechanik sind die gemeinsamen Regeln und Methoden: „Unser Körper ist eine einfache, aber smarte Maschine mit einem Skelett als Grundgerüst und Muskeln als Aktuatoren – statt Rahmen und Hydraulikzylinder. Newtons Gesetze der Mechanik, 200 Jahre alt, gelten für beide. Bei den Computersimulationen verwenden wir die gleiche Software wie im Auto- oder Flugzeugbau, wir haben die gleiche Prüftechnik und arbeiten mit bildgebenden Verfahren“. Ein immer neuer Blickwinkel ergibt sich, weil Menschen im Gegensatz zu Maschinen individuell sind. An der Karl Landsteiner Universität hat Dieter Pahr gelernt, persönliche Patient*innen-Entscheidungen zu respektieren, in denen technische Machbarkeit und Kosten nicht die Hauptrolle spielen. Die ethischen Aspekte und das klinische Environment sind durchaus herausfordernd für seine Forschung.
Abwechslungsreiche Arbeitstage
Mit einer Doppelprofessur an der TU Wien und der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften in Krems will er die Ingenieurwissenschaften in den Dienst der menschlichen Gesundheit stellen. Die Forschung umfasst Prävention, Behandlung und Nachsorge von Erkrankungen des Bewegungsapparates mit Hilfe von Simulationsverfahren, bildgebenden Verfahren, experimentellen Untersuchungen und 3D-Druck.
Das Spektrum an einem Arbeitstag kann also sehr breit sein. Von der Computersimulation geeigneter Stellen für Schrauben im Knochen über die Abklärung, ob es sich um Menschen- oder Affenknochen handelt, klassischen Belastungsmessungen, der Replikation mittels 3D-Druck oder dem Screening für Osteoporose. Dank Bruchlastprüfungen kann genau vorhergesagt werden, welche Belastungen ein Knochen sicher mitmacht. Anhand von Röntgenaufnahmen kann simuliert werden, wo und wie viele Schrauben positioniert werden sollen, damit die Platte zur Reparatur des Unterarmbruchs hält. Das spart bei der Operation Zeit und Material. Und so kann aus einer Simulation eine Handlungsanleitung werden.
Geschichte der Menschheit redatiert
Sein persönliches Highlight war, als 2014 die Entstehung der Menschheit um eine Million Jahre zurückdatiert wurde. Was war passiert? Im Auftrag des Max-Planck- Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig wurden Handknochen analysiert und die Frage beantwortet, welchen Belastungen und Aufgaben diese vermutlich während des Lebens ausgesetzt waren. Die drei Millionen Jahre alten Funde zeigten typisch menschliche Knochenmuster. Davor war man davon ausgegangen, dass Menschen sich vor rund zwei Millionen Jahren wegentwickelt hatten! Als Vergleichsmaterial dienten übrigens Knochen aus dem 15. Jahrhundert, weil die Bauern und Bäuerinnen damals ähnlich hart körperlich arbeiteten.
Die Forschungsgruppe an der TU Wien ist eher computerbasiert, die Core Facility in Krems eher experimentell. Doch Dieter Pahr sieht sie „als interuniversitäres Biomechanik Laboratorium“. Das Dach sind Knochen: experimentell, computergestützt und als Nachbildung für anatomische Modelle. Aus der Knochenmechanik hat sein Team auch schon Ausflüge in die Weichteile gemacht. Zuletzt wurde ein Silikonmodell zum Üben der Knotentechnik bei Magen-Operationen entwickelt. Um gesunde Knochen herrscht ein ziemliches G’riss – so muss man es wohl sagen. Alle wollen sie untersuchen und Körperspenden von jungen Menschen ohne Krankheitsgeschichte sind glücklicherweise selten.
Weiters sollten Biomechaniker*innen keine Scheu davor haben, mit menschlichen Präparaten zu arbeiten, was visuell, haptisch, aber auch geruchsmäßig herausfordernd sein kann. Nach den drei Hands-on-Aufgaben, Knochenmaterial zu präparieren, zu reinigen und einzubetten, übernimmt eine Prüfmaschine für nachvollziehbare Messungen. Ein gesunder Knochen, so Dieter Pahr, macht übrigens einen heftigen Knall, wenn er bricht. Ein Job für alle Sinne also.
Astrid Kuffner
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