Roland Bernhard, Professor an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems, hat in Gesprächen mit Schulleiter*innen den „London Effect“ untersucht. So nennt man in der Bildungsszene eine rasante Entwicklung der frühen 2000er-Jahre in England. Binnen weniger Jahre gelang es etlichen Londoner Schulen mit großen Herausforderungen, zu Orten der Bildungsgerechtigkeit für benachteiligte Kinder und Jugendliche zu werden. Dieser Erfolg beruht auf nationalen und behördlichen Programmen, fußt aber ganz wesentlich auf Ideen von der Basis: aus Direktionen und Lehrer*innenzimmern an den einzelnen Standorten. Roland Bernhard hat für die School Quality and Teacher Education (SQTE) Studie vor Ort nachgefragt, wie der Unterricht schnell und wirksam verbessert werden konnte. „Statt in den Chor über Österreichs schlechtes Bildungssystem einzustimmen, haben wir funktionierende Ansätze und inspirierende Vorbilder gesucht und gefunden“, betont der Projektleiter.
Vielen hilft ein Buch. Aber nicht, weil die Schüler*innen es lesen. Im Interview mit einem Direktor, der eine Schule „gedreht“ hatte – vom Brennpunkt mit Gewalt, Drop-outs, Drogen und Radikalisierung zur Schule, die benachteiligte Schüler*innen effektiv voranbringt –, zog dieser ein Buch mit praktischen Anregungen für den Unterricht aus dem Regal: „Er empfahl es allen Lehrpersonen am Standort zur Weiterbildung. Wir haben daraufhin in Kooperation mit dem Wiley Verlag Teach Like a Champion von Doug Lemov gleich übersetzen lassen.“ Ein anderer Schulleiter besuchte die Klassenzimmer und identifizierte die Super-Lehrkräfte an seiner Schule. Dann reduzierte er deren Lehrverpflichtung und setzte sie im Führungsteam als Mitverantwortliche für die Aus- und Fortbildung am Standort ein.
Insgesamt wurden im Projekt 22 qualitative Interviews mit Schulleiter*innen und Lehrpersonen an Standorten geführt, die trotz widriger Umstände hohe Lernleistungen ihrer Schutzbefohlenen vorweisen konnten. Beschrieben werden diese Fortschritte im „Progress 8 Score“, der einen fairen Vergleich ermöglicht. Der Score misst die Fortschritte der Schüler*innen im Vergleich mit solchen, die ähnliche Vorleistungen aufweisen. Ein hoher Score bedeutet, dass eine Schule die Lernleistungen der Kinder trotz schwieriger Voraussetzungen besser voranbringt als andere Schulen mit ähnlichen Voraussetzungen. So einen Qualitätsindikator gibt es in Österreich nicht. Der Projektleiter sähe aber in der bereits etablierten individuellen Kompetenzmessung PLUS, kurz iKM+, einen guten Ansatzpunkt.
„Wir wissen, dass Lehrpersonen der Dreh- und Angelpunkt für die Qualität des Unterrichts und die Schulentwicklung sind. Hier kann mit kontinuierlicher Verbesserung am jeweiligen Standort oder gemeinsam mit benachbarten Schulen angesetzt werden“, verweist Roland Bernhard auf ein zweites wichtiges Ergebnis der SQTE-Studie. Eine vergleichsweise simple Maßnahme, die „professionelle Lerngemeinschaft“, wurde in den Interviews häufig als entscheidend genannt. Bei der kollegialen Hospitation besuchen einander Lehrende gegenseitig im Klassenzimmer, beobachten den Unterricht und geben danach individuelles Feedback für Verbesserungen. Es ist zudem wahrscheinlich, dass für gängige Probleme im Unterricht schon einmal jemand eine Lösung gefunden hat. Dass die Klassentür offensteht und Peers sich gegenseitig beim Unterricht unterstützen, sieht der Projektleiter auch in Österreich im Kommen. Eines der größten Probleme hierzulande ist für ihn „das miese Prestige von Lehrpersonen und wie schlecht über sie gesprochen wird. Das wirkt abschreckend auf Talente, und Direktor*in möchte heute kaum mehr jemand werden“.
Das besagte Buch von Doug Lemov destilliert übrigens 63 praktische Maßnahmen für den Unterricht aus ebensolchen Hospitationen. Dazu gehört die schlichte Technik, als Lehrender nach einer Frage lange genug abzuwarten. Kaum ein Kind fängt ernsthaft an nachzudenken, wenn nach eineinhalb Sekunden die Lehrkraft selbst antwortet oder jemand anderer drangenommen wird. Oder die Anregung, alle Kinder in der Klasse immer wieder anzusprechen, statt nur die erste Reihe, damit alle dranbleiben können.
In Fokusgruppen mit 40 Schulleitungen in Österreich wurden die SQTE-Ergebnisse diskutiert. Als Knackpunkte wurden Bürokratie und Administrationsaufgaben identifiziert, mit denen Direktionen hierzulande überschüttet werden. Sie haben meist kein oder zu wenig Personal für diese Tätigkeiten und kommen daher nicht zu zentralen Aufgaben wie Schulentwicklung, Unterrichtsqualität, Fortbildung und Feedback.
„Dass mit weniger Bürokratie, einem aussagekräftigen Indikator, geteilter Führung und eigenen Ideen die Unterrichtsqualität binnen zwei bis drei Jahren rasch und nachweisbar verbessert werden kann, sollte uns Mut machen. So schwierig, wie in den von uns gewählten Bezirken Londons, ist es in Österreich nicht an vielen Orten“, zieht Roland Bernhard ein ermutigendes Fazit von seinem Aufenthalt an der Universität Oxford.
Astrid Kuffner