ask – art & science krems: Lukas Zenk, wann haben Sie zuletzt improvisiert?
Lukas Zenk: Auf dem Weg hierher. Ich musste unerwartet an einer Baustellenabsperrung umschwenken. Ich hatte einen Plan, aber wegen der Absperrung musste ich einen neuen Weg finden.
ask – art & science krems: Ist das ein Vorsatz, täglich ein wenig zu improvisieren?
Zenk: Es wäre sehr schwierig, nicht zu improvisieren. Planen bedeutet, über etwas nachzudenken, es vorzubereiten und dann auszuführen. Improvisieren bedeutet, im selben Moment nachzudenken und zu handeln. Improvisation ist dabei nicht besser oder schlechter als planen – es geht eher darum, was in welcher Situation passender ist.
ask – art & science krems: Désirée Saarela, haben Sie gerne einen Plan?
Désirée Saarela: Ich bin sehr gerne vorbereitet. Aber ich habe drei Kinder…
Zenk (lacht): … da muss man andauernd improvisieren!
Saarela: Genau! Wir leben auf dem Land, also muss ich als freischaffende Künstlerin viel reisen. Man plant die Dinge für die Arbeit und nimmt sich etwas vor, aber es ist immer herausfordernd, die Familie zu integrieren. Ich war jetzt als Artist in Residence in Krems und zwei Wochen ganz alleine, das erste Mal seit Jahren. Ich konnte ganz auf meine Arbeit fokussieren. Dann ist meine Familie nachgekommen, aber ich arbeite ja weiter. Wir müssen diese beiden Sphären integrieren und improvisieren.
ask – art & science krems: Wie lautet Ihre kürzeste Definition von Improvisation?
Saarela: Es bedeutet, im Hier und Jetzt zu sein und im Moment das jeweils Richtige zu denken und zu machen.
Zenk: Das sehe ich auch so. „Improvisus“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „das Unvorhersehbare“. Improvisation hat daher grundsätzlich zwei Dimensionen: die Zeit und die Neuigkeit. Es handelt sich bei der Improvisation also um etwas Dringliches, „jetzt“, das nicht aufgeschoben werden kann. Und man macht etwas, das „neu“ für einen ist und nicht auf einer vorgeplanten Routine basiert.
ask – art & science krems:Wo spielt denn Improvisation eine Rolle in der Wissenschaft?
Zenk: Wissenschaft ist wie auch Musik ein weites Feld. Improvisation findet man hier etwa bei Entdeckungen, die aus Überraschungsmomenten entstehen – beispielsweise bei den Spiegelneuronen oder der Mikrowelle. Um diese Momente auch nutzbar zu machen, wird ein entsprechendes Mindset benötigt, das auch im Improvisationstheater entwickelt wird. Wir trainieren beispielsweise die „Yes And“-Haltung, also: ein Angebot zu bejahen und etwas Neues hinzuzufügen. Wenn einer auf der Bühne sagt: „Da ist ein Elefant“ und die andere sagt: „Nein, das ist ein Felsen“, dann führt das nur zu Streit, und wir folgen nicht der Yes-And Haltung. Wenn die Antwort aber lautet: „Ja, da ist ein Elefant, und er rennt auf uns zu“, dann nehmen wir das Angebot des anderen Spielers an und es kann gemeinsam eine neue Szene entstehen. In der Wissenschaft stehen wir in analoger Weise als Zwerge auf den Schultern von Riesen. Wir bauen auf den vielen Erkenntnissen der bisherigen Entdeckungen auf und führen sie auf neue Weise fort – oder versuchen sie mit geeigneten Methoden zu widerlegen. Und so können Überraschungen dann auch zu neuen Erkenntnissen führen.
ask – art & science krems: Frau Saarela, wie verhält es sich mit der Yes-And-Haltung in der Folk Music, die auf einer starken Tradition basiert?
Saarela: Das Interessanteste, wenn es um den Ausdruck in der Folk Music geht, ist die Person, die das Stück interpretiert. Die Komposition ist kein Geheimnis, aber die Frage ist: Wohin gehst du von dort aus? Du umarmst die Wurzeln, und gleichzeitig wächst aus deinen Emotionen, deinem Körper in demselben Moment ein Baum, der das Publikum erreichen möchte. Du musst dich nach der vielen Vorbereitung und dem Üben selbst verlieren. Wenn Du zu singen anfängst, weißt Du nicht, was passiert.
ask – art & science krems: Wir improvisieren alleine, müssen aber auch in Gruppen etwas erreichen – in einer Firma oder einer Band. Gibt es etwas, das wir von historischen Arbeits-Gemeinschaften wie Armeen, Zünften oder Klöstern lernen können? Oder hatten diese nur klare Hierarchien?
Zenk: Neben der Hierarchie gab es wohl auch klare, vorgeschriebene Rollenverständnisse. Die Rolle bestimmte, was man ist und was man tun kann. Es gab weniger Möglichkeiten, sich selbst und die Gesellschaft zu verändern. Heute leben wir in einer anderen gesellschaftlichen Entwicklung. Yuval Harari hat das einmal in einem Gedankenspiel beschrieben, in dem ein Mensch aus dem Jahr 1000 in die Zukunft, ins Jahr 1500, reist und sich grundsätzlich zurechtfinden kann, weil das globale System ähnlichen Mustern folgt. Bei der Reise aus dem Jahr 1500 ins Jahr 2000 wäre dieser Zeitreisender verloren, weil eine völlig andere Welt mit völlig neuen Regeln und Technologien entstanden ist.
ask – art & science krems: Gibt es aus der Vergangenheit etwas zu lernen für Firmen?
Zenk: Man kann immer aus der Vergangenheit lernen. Aber noch wichtiger ist es aktuell für Organisationen, alte Rezepte und Hierarchien zu verlernen. Die starren Strukturen der letzten 200 Jahre funktionieren nicht mehr in einer sich rasch verändernden Welt. Um mit unseren Polykrisen heute umzugehen, müssen auch Firmen mehr im Hier und Jetzt ankommen, als an alten Plänen festzuhalten.
ask – art & science krems: Beim Verlernen können wir vielleicht von der Kunst lernen. Désirée Saarela, Sie arbeiten in verschiedenen Formationen mit anderen Musiker*innen. Was können Firmen aus dieser Interaktion lernen?
Saarela: Ich spiele mit verschiedenen Menschen in unterschiedlichen Konstellationen. Wenn ich die Musik schreibe und die Solistin bin, muss ich meine Gruppe um mich versammeln. Es gibt Menschen, mit denen ich spielen und Dinge probieren kann. Andere Musiker*innen wollen mehr Anweisungen. Eine Band, aber auch unsere Gesellschaft, besteht aus vielen unterschiedlichen Persönlichkeiten und Charakteren, die es zu sehen und wahrzunehmen gilt. Leadership beginnt für mich damit, ein intuitiver Mensch zu sein. Am besten funktioniert das Zusammenspiel, wenn alle sie selbst sein können. Mit einer Idee, wo wir hinwollen, versuche ich zu erkennen, was die einzelnen Musiker*innen von mir brauchen. Dann bauen wir etwas rundherum auf.
ask – art & science krems: Sie wurden von Glatt&Verkehrt beauftragt, mit Hannah James und Lylit ein Projekt zu entwickeln. Wie nähern Sie sich einer solchen Kollaboration?
Saarela: Wir sind alle recht beschäftigt, leben in verschiedenen Ländern – also wie bereitet man so etwas in kurzer Zeit vor? Wir trafen uns im April in Wien; zuvor las ich über die beiden Musikerinnen und hörte ihre Musik. Ich dachte an einige Lieder, die ich gern mit ihnen spielen würde. Beim ersten Treffen ging es mir nur darum zu sehen, wer sie sind. Was sind das für Personen? Wie sind sie mit ihren Emotionen verbunden? Ich kann das sehr schnell erfassen. Hannah spielt Akkordeon, tanzt aber auch, Lylit ist eine erstaunliche Sängerin und Pianistin. Wir arrangierten zwei Songs von mir und einige von ihnen. Wir proben nächste Woche und haben jetzt sehr unterschiedliche Lieder. Diese haben sich weiterentwickelt. Sie haben ihr eigenes Leben gelebt, wir gaben ihnen Zeit dafür.
ask – art & science krems: Es gibt kein Rezept für Improvisation, aber vielleicht Zutaten. Lässt sich das, was Désirée Saarela beschreibt, auf Unternehmen oder Organisationen umlegen?
Zenk: All diese Zutaten sind hilfreich! Ich gebe oft Seminare für Führungskräfte. Wenn diese zum Beispiel nicht mit ihren Emotionen verbunden sind, können sie nicht authentisch und empathisch führen, keine klaren Visionen entwickeln. Auch dem, was Désirée Saarela über Leadership gesagt hat, kann ich zustimmen: Menschen haben verschiedene Persönlichkeiten und Fähigkeiten, die wie Instrumente zusammen erklingen müssen. Dabei ist in Organisationen und der Musik der gemeinsame Rhythmus ein wesentliches Element. Gerade in einer dynamischen Zeit ist ein gemeinsamer Takt erforderlich – wann beispielsweise Meetings und Abstimmung durchgeführt werden und wie unterschiedliche Abteilungen einen zusammenpassenden Rhythmus finden können.
ask – art & science krems: Um improvisieren zu können, muss man bestimmten Regeln, Rhythmen, Strukturen folgen. Wie wichtig ist dieser Aspekt?
Saarela: Sehr! Es gibt so viele Arten zu arbeiten, auch in der Musik. Manche sind sehr theoretisch orientiert, andere analysieren superschnell und fast mathematisch Muster. Aber man kann sich auch verlieren. Manchmal besteht die Spannung gerade darin, dass die Noten falsch sind. Aber die Struktur muss entsprechen. Wenn du Brot bäckst, brauchst du bestimmte Zutaten wie Mehl. Du kannst es aber auf verschiedene Arten backen. Ich für meinen Teil gehe einen sehr emotionalen Weg. Mit 13 schrieb ich Musik, ohne wirklich zu wissen, was ich da mache. Während Hannah und Lylit schneller sind, brauche ich oft mehr Zeit, um die Dinge durchzudenken.
Zenk: Improvisieren bedeutet nicht, irgendetwas willkürlich zu tun. Meine fünfjährige Tochter improvisiert beispielsweise gern am Klavier. Es ist schön, als Vater zuzuhören, aber etwas anderes, als wenn ein professioneller Musiker wie Keith Jarrett improvisiert. Was ist der Unterschied? Sie haben natürlich völlig unterschiedlichen Fähigkeiten und Erfahrungen. Es braucht Jahre, manchmal Jahrzehnte, um die grundsätzlichen motorischen Fähigkeiten zu erlernen und musikalischen Muster zu verstehen. Und dann muss man diese noch in Echtzeit anwenden, um professionell improvisieren zu können. Improvisation ist eine eigene Kunstform, die man trainieren muss.
ask – art & science krems: Wird die Fähigkeit zur Improvisation heute gemeinhin unterschätzt?
Zenk: Ja. Viele Unternehmen sind noch immer sehr klassisch nach fixen Prozessen und starren Hierarchien organisiert und hängen zu sehr an ihren idealistischen Plänen – auch wenn ihnen bewusst ist, dass sie eigentlich improvisieren müssten, um mit einer sich verändernden Umwelt zurecht zu kommen.
ask – art & science krems: Wie können wir lernen, besser zu improvisieren?
Zenk: Beim Improvisationstheater trainiert man meistens ein Jahr, bevor man auf die Bühne geht. Denn am Anfang ist es beängstigend, vor einem Publikum zu stehen ohne zu wissen, was in der nächsten Sekunde passieren wird. Du musst lernen, dich trotz dieser Ungewissheit zu entspannen und aus dem, was entstehen möchte, eine Story zu entwickeln. Und das sind Fähigkeiten, die man auch im beruflichen Alltag gut einsetzen kann. Gerade in Krisen hilft es, einen kühlen Kopf zu bewahren, die aktuell vorhandenen Ressourcen zu nutzen und im jeweiligen Moment passende Entscheidungen zu treffen.
ask – art & science krems: Lukas Zenk, der Begriff VUCA-Situation stammt aus dem Militärwesen und steht für „volatility, uncertainty, complexity und ambiguity“. Damit umzugehen, wird immer wichtiger. Ist das typisch für die Gegenwart?
Zenk: Die Schwankungen und Unsicherheiten sind stärker geworden. Wir wissen beispielsweise nicht genau, wie sich die Inflation verändert oder wann die nächste Pandemie kommen wird. Und die Welt ist komplexer geworden, weil mehr Menschen und Maschinen miteinander kommunizieren und wir immer wieder neu eruieren müssen, wie wir diese mehrdeutigen Entwicklungen verstehen sollen. Die künstliche Intelligenz ist dabei ein gutes Beispiel für eine aktuell kommende Transformation.
ask – art & science krems: Désirée Saarela, wie sehen Sie das als Musikerin – ist Improvisation gesellschaftlich wichtiger geworden?
Saarela: Sie war es schon immer. Aber jetzt haben wir mehr Instrumente, um sie in uns besser zu entwickeln. Es ist wichtig, dass Menschen mit verschiedenen Hintergründen zusammenkommen. Wir brauchen ganz unterschiedliche Perspektiven. Ich verstehe die Welt viel besser, wenn ich sehe, wie sie für andere funktioniert.