Wenn das Schritttempo nicht allzu hoch ist, dann braucht man fast eine Minute. Eine Minute, um jenes Denkmal abzuschreiten, das sich im jüdischen Friedhof Krems wie ein Riegel vor dessen hinteren Teil schiebt, vor jenen Part der Stätte, in dem die älteren Gräber stehen.
Der Künstler Hans Kupelwieser installierte das 48 Meter lange Stahlband im Jahr 1996, auf Einladung der Kulturabteilung des Landes / Kunst im öffentlichen Raum. In Schablonenlettern sind die Namen sämtlicher jüdischer Kremser*innen eingeschrieben, die im Holocaust ermordet und vertrieben wurden, dazu Geburtsdatum und Zeitpunkt wie Ort des Verschwindens: 129 Namen. Darunter etwa Theresia Sax, 1911 geboren, in einem Lager bei Litzmannstadt vergast. Fritz Neuberger, 1893 geboren, nach Minsk deportiert. Rosa Lustig, Jahrgang 1865, nach Riga deportiert. Anderen gelang die Flucht – nach England wie Philippine Kerschbaum, nach Toronto, Paris, Nizza.
Grenze zwischen Erinnern und Vergessen
„Diese Schwelle“, so schrieb der Historiker Robert Streibel über Kupelwiesers Kunstwerk „markiert eine Grenze zwischen Erinnern und Vergessen. Angesichts der Daten und des Schicksals der 129 Juden können die Besucher*innen des Friedhofes nicht zur Tagesordnung übergehen, die Tatsache der Vertreibung und Ermordung der Juden muss zur Kenntnis genommen werden.“
Streibel war es auch, der herausfand, dass auf dem 1880 angelegten jüdischen Friedhof während der NS-Zeit „Gräber vernichtet wurden, um Platz für die Errichtung von Baracken für französische Kriegsgefangene zu schaffen“. Mindestens zwei Reihen von Gräbern seien „in einer Länge von 50 Metern dem Erdboden gleichgemacht worden“, eine, wie er feststellte, „brutale und erfolgreiche Vernichtung der Geschichte“.
Auch das nicht mehr Sichtbare zeugt vom Verbrechen.
Umtost
Der jüdische Friedhof Krems liegt alles andere als beschaulich: An ihrer Adresse, Wiener Straße 115, fährt man leicht vorbei – und tatsächlich fahren die Menschen hier vorwiegend, denn der Friedhof ist umtost von Bundes- und Schnellstraße. Zufällige Passant*innen kommen an dieser Einfallstraße selten vorbei. Wer diesen Ort betreten möchte – und ein Besuch ist schwer zu empfehlen –, leiht im gegenüberliegenden Autohaus Hänfling den Schlüssel aus, sprintet dann hurtig über die Bundesstraße und sperrt das Schloss, das an einer rostigen Kette hängt, auf. Knatternde Motorräder und vorbeirauschende Autos vermischen sich mit Vogelgezwitscher.
Im hinteren Bereich wuchert Efeu über die alten Gräber, die von Gittern eingefasst sind. Brombeeren, Brennessel und Walderdbeeren wachsen zwischen den Grabsteinen, die Salomon Lustig, Kaufmann in Hadersdorf, der bereits im 35. Lebensjahr starb, oder Pinkus Oberländer, Realitätenbesitzer, gestorben 1902, gedenken. Unweigerlich vergleicht man die Namen derer, denen noch ein anständiges Begräbnis gewidmet war mit jenen, die auf Kupelwiesers Denkmal verzeichnet sind. Manche Familiennamen kommen da wie dort vor: Schafranek, Kohn, Kerschbaum etwa. Jene, die um 1900 verstarben, konnten nicht ahnen, welches Martyrium ihre Nachkommen, ihre Kinder und Kindeskinder erleiden würden – durch die Hand von deren Mitmenschen. Deren Vorfahren vielleicht ihrerseits bei Salomon Lustig einkauften oder Pinkus Oberländers Wohnungen mieteten.
Kollektive Gefüge
Ein weiteres Kunstwerk am jüdischen Friedhof Krems besteht aus drei Bücherregalen. Es heißt „Öffentliche Bibliothek“ und wurde von dem Künstlerduo Clegg & Guttmann 2004 errichtet. In den Regalen stapeln sich Titel wie „Jakob der Knecht“ von Isaac Bashevis Singer, „The Jews. Social Patterns of an American Group“ von dem Soziologen Marshall Sklare sowie die Encyclopedia Judaica. Es ist eine von mehreren dieser Öffentlichen Bibliotheken, in denen „kollektive Gefüge und gesellschaftliche Beziehungen“ dargestellt werden, wie die Kunsthistorikerin Brigitte Huck notierte. Unter Kastanienbäumen gruppiert, erinnert die Auswahl der Bücher daran, dass der Holocaust mit den jüdischen Bürger*innen auch Tradition, kulturelles Leben und Intellektualität vertrieb.
Je länger man an diesem Ort verweilt, desto mehr tritt der Umgebungslärm in den Hintergrund, wird bald nur noch ein Hintergrundrauschen. Angesichts des Verbrechens, der vielen Opfer, an die er erinnert, erscheinen Alltagssorgen plötzlich ziemlich banal.
Nina Schedlmayer
2 Antworten
Danke für die aufschlussreiche Beschreibung des jüdischen Friedhofs, und dass ich nun endlich weiß, wer den Schlüssel dazu hat.
Jetzt kann ich endlich einen Besuch auf dem Friedhof machen!