„Bilder brauchen Analyse“

Wie machen wir uns ein Bild von der Welt? ask – art & science krems bat den Zellforscher Gerald Obermair und den Kunsthistoriker Nikolas Kratzer zum Gespräch über Fotos in Kunst und Wissenschaft.
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ask – art & science krems: Herr Obermair, Herr Kratzer, wir sprechen heute darüber, wie Wissenschaft und Kunst die Welt durch fotografische Abbildungen erfassen. Schleicht sich in wissenschaftliche Bilder manchmal ein künstlerisches Moment und umgekehrt?

Gerald Obermair: Für mich haben Nervenzellen von Haus aus eine gewisse Ästhetik. Ich erforsche unter anderem mithilfe von Mikroskopen, wie sie funktionieren und miteinander kommunizieren. Wenn ich etwas gesehen und fotografiert habe, kann ich es analysieren und anderen versuchen zu vermitteln. Wir überzeugen nicht nur mit dem Inhalt unserer Analysen, sondern sicher auch mit der Ästhetik der ausgewählten Bilder. Manchmal gelingt es uns sogar, mit einem -teilweise künstlerisch bearbeiteten Bild, auf die Titelseite wissenschaftlicher Journale zu kommen.

Nikolaus Kratzer: Historisch gesehen ist das Medium Fotografie jung und seit seiner Erfindung mit der Gretchenfrage verbunden, ob es Kunst oder Wissenschaft sei. Kann es Kunst sein? Ist das Abbild objektiver, weil es von einem technischen Apparat abhängt? Es gibt ein Buch über die Geschichte der Objektivität in der Wissenschaft von Lorraine Daston und Peter Galison. Am Beispiel von Atlanten zeigen sie, dass sich die Bilder darin im Charakter verändert haben: Vom gezeichneten Idealtypus einer Pflanze zur mechanischen Objektivität des Fotos bis zum korrigierenden Eingriff durch Wissenschafter*innen, weil die Fotografie manipulationsanfällig ist. Müssen Sie manchmal eingreifen, Herr Obermair?

Obermair: Wir brauchen technische Geräte, um Bilder machen zu können. Zudem Erfahrung und einen geschulten Blick, um zu wissen, worauf wir schauen müssen. Ich bin davon überzeugt: Die Entstehung eines Bildes ist viel stärker von dem bzw. der Wissenschafter*in geprägt als vom Gerät. Das Bild ist ein Werkzeug der Wissenschaft und wird möglichst unvoreingenommen und anhand von nachvollziehbaren Kriterien analysiert, um objektiv zu einer Aussage zu kommen. Gerade in Nervengeweben könnte ich aufgrund der biologischen Vielfalt stets das eine oder sein Gegenteil zeigen. Es werden daher Mittelwerte gebildet, nicht Extreme gesucht. Letztlich wird ein Bild gewählt, das den Durchschnitt der Analyse trifft. Ich arbeite viel und gerne mit Bildern, aber sie brauchen die Analyse an ihrer Seite. Um Artefakte zu finden und beurteilen zu können, brauchen wir anwendbare und von der Ästhetik unabhängige Kriterien zur Qualität der Zellen und des Experiments.

Gerald Obermair (geb. 1973 in Salzburg) hat an der Universität Salzburg und der Bowling Green State University (Ohio) Zoologie und Neurowissenschaften studiert.

ask – art & science krems: Nikolaus Kratzer, lassen wir uns als Betrachter*innen zu leicht täuschen durch die vermeintliche Objektivität der Fotografie?

Kratzer: Der Mythos Objektivität ist stark mit der analogen Fotografie verknüpft. Wenn meine jüngeren Geschwister ein Foto sehen, fragen sie gleich: Welchen Filter hast du verwendet? Ein Smartphone ist ja ein Computer, und die Fotos haben daher eine technisch hohe Qualität. Analoge Bilder können auch manipuliert werden, aber nicht in der Geschwindigkeit und mit der Massenwirksamkeit. Im Qualitätsjournalismus wird hohe Objektivität angestrebt. Es ist spannend, was passiert, wenn Pressefotos als Kunstwerke gehandelt werden. Bilder von Henri Cartier-Bresson, die ja dramatische politische Ereignisse zeigen, werden heute aufgrund ihrer Ästhetik in Museen gezeigt. Der spezifische Kontext der Magazingeschichte mit präzisen Bildlegenden wird dabei selten mittransportiert und bekommt so eine andere Bedeutung für die Betrachter*innen. Wie Sie bereits sagten: kein Bild ohne begleitende Analyse.

Obermair: Die Wissenschaft macht sich technische Errungenschaften zunutze. Wir müssen bei unseren Experimenten die Grenzen der Geräte kennen, um die Ergebnisse nicht zu überinterpretieren. Andererseits können wir uns dank der technischen Entwicklung auf die Ergebnisse konzentrieren. Ganz am Anfang meiner Forschungen arbeitete ich mit einer analogen Kamera am Mikroskop und sah erst am fertigen Bild, wie gut die Fokussierung der beiden Geräte harmonierte. Heute beobachten wir Bilder live und justieren den Fokus digital. Hochauflösende Mikroskope zusammen mit digitaler Fotografie ermöglichen uns, lebende Zellen im Zeitverlauf zu analysieren oder aus vielen Einzelbildern ein Gesamtbild zu erstellen. Wir müssen uns darauf verlassen, dass die Analysen und Algorithmen korrekt funktionieren, haben aber auch hier Qualitätskriterien, um zum Beispiel Fehler in errechneten Übergängen dingfest zu machen. 

Kratzer: Der Soundart-Künstler  Bernhard Leitner hat sich mit der körperlichen Erfahrung von tonräumlichen Installationen beschäftigt. Diese sind heute oft nur noch auf Fotos erhalten. Auf der Documenta 1982 in Kassel probierte ein Neurologe seinen „Soundcube“ und führte dann mit dem Kunstobjekt eine Studie mit Probanden an der Uniklinik durch, um Veränderungen des Körpers durch Sound sichtbar zu machen. Da kommen viele Diskurse zusammen: Kunst und Wissenschaft, die raumkörperliche Erfahrung in der Kunst des 21. Jahrhunderts, das Hilfsmittel der Fotografie, um etwas sichtbar zu machen, was man sonst nicht sehen kann.

Nikolaus Kratzer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Museale Sammlungswissenschaften der Donau-Universität Krems.

ask – art & science krems: Ein Teil der Manipulierbarkeit von Fotos ergibt sich durch den gewählten Moment und Ausschnitt. Wie wichtig ist neben der isolierten Analyse von Zellsystemen der Blick auf den ganzen Menschen und darauf, wie es ihm mit physiologischen Vorgängen geht?

Obermair: Das ist sehr wichtig. Allerdings ist es unmöglich, eine einzelne Nervenzelle im menschlichen Körper zu beobachten. Darüber hinaus gibt es beispielsweise hormonelle Einflüsse, die Funktionen modulieren, welche wir für ein Experiment im Labor zunächst ausschließen. Wir reduzieren also die Komplexität eines neuronalen Netzwerks, um eine Hypothese zur Funktion einzelner Bestandteile im System zu testen. Wir wollen ein Element besser kennenlernen und verfeinern mit dem gewonnenen Wissen unsere Hypothesen. Das Gesamtbild ergibt sich aus verschiedenen Ebenen der Betrachtung und der Erkenntnisse. Am Ende trägt alles gemeinsam zum Verständnis neurophysiologischer Abläufe bei. Das kommt Patient*innen letztlich zugute, weil wir damit die Entstehung von Krankheiten besser verstehen und im Idealfall eine Therapie verbessern oder überhaupt erst entwickeln können.

ask – art & science krems: Gleichzeitig mit der Fotografie entstanden auch die Versuche ihrer Manipulation. Ist die Sorge vor Künstlicher Intelligenz, die uns Fakes liefern könnte, angesichts dessen übertrieben?

Kratzer: Man muss damit so umgehen mit der Informationsflut: Selbst filtern, abwägen, was plausibel und wichtig erscheint. Ich habe keine Panik vor der KI.

Obermair: In der Wissenschaft ist das Thema sehr präsent. Wissenschaftliche Journale versuchen, sich durch Peer Reviews gegen Manipulation zu schützen. Fachkolleg*innen begutachten dabei, ob gut gearbeitet wurde. Das funktioniert im Großen und Ganzen. Für die digitale Manipulation von Bildern gibt es Richtlinien, was zulässig ist. Verlage behalten sich vor, einzelne Bilder analysieren zu lassen, doch die gesamte Datenmenge anzuschauen, würde das System sprengen. Wichtig ist, die Ethik der Wissenschaft hochzuhalten. Dazu braucht es auch den Mut, nicht perfekte Abbildungen zu verwenden: Auch Flecken müssen gezeigt werden. Für mich sind Verunreinigungen ein Bestandteil des Ganzen und erhöhen die Glaubwürdigkeit der Bilder.

Kratzer: Unlängst begann der Grafiker bei unserer gemeinsamen Arbeit an einem Ausstellungskatalog, in den Fotos Steckdosen und Leuchtkörper weg zu retuschieren. Das geht gar nicht!

ask – art & science krems: Steckt in der Künstlichen Intelligenz auch eine Hoffnung – dass die Maschine, wenn sie zahllose Ultraschallbilder oder Mammografien analysiert, etwas findet, das für das menschliche Auge nicht erkennbar wäre?

Obermair: Ich kann in meinem Bereich noch nicht im Detail abschätzen, wie eine reine KI funktionieren kann. Viele Arbeiten profitieren von den Erfahrungen der Wissenschafter*innen. Etwas händisch zu machen, ist die stärkste und geldintensivste, aber auch subjektivste und am leichtesten angreifbare Methode. Um die Objektivierung in der Analyse zu vereinfachen, arbeiten wir daher kleine interaktive Programme aus. Am Beginn einer Analyseserie werden diese mit extremen Ergebnissen umfassend auf ihre Tauglichkeit getestet.

Kratzer: Im Bereich der Kunstgeschichte hängt der Einsatz von KI oder Machine Learning mit der Forschungsfrage zusammen: Man muss wissen, wo man hinwill. Eine weitere große Zukunftsfrage betrifft die Rechte: Wesentliche Teile des Museumsalltags drehen sich schon heute um Bild- und Werknutzungsrechte. Das ist ein schwieriges Terrain. Wenn ein Algorithmus digitale Kunst produziert, wer ist dann Urheber oder Urheberin? Da stößt man auf viele Fragezeichen.

Nina Schedlmayer stellt die Frage, wie sehr künstliche Intelligenz in Kunst und Wissenschaft unsere Wahrnehmung beeinflussen und manipulieren kann.

ask – art & science krems: Diese Fragen stellen sich bei allem, was publiziert wird. Doch welche Bilder schaffen es überhaupt hinaus in die Welt?

Kratzer: Die Fotografin Elfriede Mejchar beispielsweise fotografierte über 60 Jahre lang – als Brotberuf fürs Denkmalamt und künstlerisch. In der Landessammlung Niederösterreich haben wir 40.000 Einzelbilder von ihr. Davon schaffte es ein elitärer Kreis, sich zu etablieren. Das hängt sicher mit der herausragenden Qualität des einen oder anderen Fotos zusammen, aber auch mit Zufällen. Es wurden immer ähnliche Gruppen publiziert. 2024 wäre die Künstlerin 100 Jahre alt geworden, da werden drei Ausstellungen stattfinden – im Wien Museum, im Museum der Moderne Salzburg und in der Landesgalerie Niederösterreich. Zu diesem Anlass versuchen wir, dieses Werk zu öffnen und werden zusätzlich zum Printkatalog vieles online publizieren. Ein Bild, das beispielsweise für ein Plakat verwendet wird, braucht einen gewissen Wiedererkennungseffekt – da geht es auch ums Marketing.

ask – art & science krems:  Gibt es bildliche Ikonen der Wissenschaft, die ästhetisch so stark sind, dass sie im Allgemeingedächtnis haften blieben?

Obermair: Ich teile die Ansicht, dass der Zufall eine große Rolle spielt. Im Fall der Wissenschaft muss der idealerweise mit einer Entdeckung verbunden sein. Wobei das Bild, das verwendet wird, vielleicht die Entdeckung gar nicht zeigt, aber einen Aspekt gut illustriert und darüber hinaus ästhetisch ansprechend ist. Manche Bilder können anderen Menschen Aspekte nahebringen, die für mich als Wissenschafter klar sind.

Kratzer: Ich finde es sehr reizvoll, wenn etwas ein Eigenleben bekommt. Etwa die Memes, die im Internet kursieren: Da verwandelt sich beispielsweise ein Bild von einer Katze oder einem Film Still in etwas ganz anderes. Und man sieht dann etwas anders als zuvor. Wie auch in der Kunst.

Einigkeit gab es darüber, dass die Fotografie sowohl in der Kunst, als auch in der Wissenschaft eine bedeutende Rolle spielt.

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Gerald Obermair ist Leiter des Fachbereichs Physiologie an der Karl Landsteiner Universität in Krems und Sprecher des geplanten PhD-Programms „Mental Health & Neuroscience“. An der Medizinischen Universität Innsbruck leitete er bis 2023 das vom Wissenschaftsfonds FWF geförderte Doktoratsprogramm CavX – Calcium channels in excitable cells. In seiner Forschung beschäftigt er sich u.a. mit der Bildung und Funktion von Synapsen im Zusammenhang mit spannungsabhängigen Kalziumkanälen, die in neuronalen Prozessen und Erkrankungen – wie etwa auch Autismus oder Parkinson – eine Rolle spielen.

 

Nikolaus Kratzer studierte Kunstgeschichte in Wien. Er ist seit 2014 Mitarbeiter am Zentrum für Museale Sammlungswissenschaften an der UWK und arbeitet an der wissenschaftlichen Erschließung des Sammlungsbereichs „Kunst nach 1960“ in den Sammlungen des Landes Niederösterreich, besonders der Fotografie. Darüber schrieb er in zahlreichen Publikationen, etwa zu Heinz Cibulka und Elfriede Mejchar. Er co-kuratierte die aktuelle Ausstellung „Kunstschätze vom Barock bis zur Gegenwart“ in der Landesgalerie Niederösterreich.

Foto: Barbara Elser
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