ask – art & science krems: Frau Juster, Frau von Lucadou, wir wollen heute mit Ihnen als Expertinnen über die gesellschaftlichen Auswirkungen des Digitalen, insbesondere von Social Media, sprechen. Nutzen Sie diese selbst?
Julia von Lucadou: Ich nutze Social Media nicht aktiv, aber sie faszinieren mich. Im Studium und in meiner Arbeit mit Film und Medien fragte ich mich immer wieder: Was macht ein Medium mit der Wahrnehmung? Ich interessiere mich für die Auswirkungen großer technologischer Entwicklungen auf die Wahrnehmung, den Körper und die soziologischen Verhältnisse. Weil ich viel über die Manipulationsfähigkeiten von Social Media gelernt habe, schrecke ich davor zurück, sie aktiv zu nutzen.
Julia Juster: Mich müssen sie interessieren, und ich nutze sie beruflich, etwa als Marketinginstrument für unser Department, und um die journalistische Perspektive darauf in die Lehre einzubringen. Neben der Anwender*innenperspektive interessiert mich mit meinem medientechnischen Hintergrund, was die Algorithmen bedingen und verursachen. Privat bin ich nur Beobachterin. Ich kenne die Funktionalitäten, würde mich aber nie so exponieren. Überspitzt gesagt frage ich mich: Wen interessiert es, ob ich einen Kuchen backe?
ask – art & science krems: Julia von Lucadou, in Ihrem jüngsten Buch „Tick Tack“, zeigt sich auch, wie sehr Authentizität auf Social Media gefordert ist. Woran liegt das?
Von Lucadou: Ich habe den Eindruck, dass die Sehnsucht nach Echtheit, das Bedürfnis, nahe an Menschen heranzukommen, etwas Urmenschliches ist. Als Autorin werde ich nach Lesungen oft gefragt, ob der Stoff autobiografisch ist. Durch das Erzählen von Geschichten verstehen wir uns selbst besser. In der Reflexion der anderen, in der Nähe und im Vergleich finden wir etwas über uns heraus. Vor diesem Hintergrund vereinen Social Media den Widerspruch von Authentizität und Konstruiertheit. Dieses visuelle Medium dringt in unseren privaten Raum vor. Gleichzeitig ist seine Form artifiziell und – durch Bildformat, Länge, Filter und anderes – vorgegeben. Die persönliche brand ist wichtig, weil die Sozialen Medien mittlerweile nicht mehr hauptsächlich Beziehungs-Netzwerke sind, sondern Marketinginstrumente. Dort muss das Bild, das man von sich selbst verkauft, ständig bestätigt werden und gleichzeitig so rüberkommen, als wäre es in dem Moment absolut authentisch.
Juster: Es geht immer um Identifikation. Wir fragen uns, ob jemand uns ähnlich ist, ähnliche Werte hat, ob die Person „wie ich“ tickt. Eine Person muss greifbar sein. Wenn ich jemanden nicht verstehe, werde ich ihn nicht in meinen Freundeskreis aufnehmen. Wer ankommen will, muss sich also öffnen und positionieren. Das ist sicher eine Gratwanderung: Bin ich so? Oder inszeniere ich mich für ein breites Publikum?
ask – art & science krems: Frau Juster, in der Wissenschaft sind Faktentreue und Nachvollziehbarkeit wichtig. Welche Eckpfeiler hat qualitätsvoller Journalismus, und wie stellen Sie als Leiterin der Journalismus-Lehrgänge an der UWK sicher, dass diese Normen, Werte und Überzeugungen in der Ausbildung gelebt und gelernt werden?
Juster: Es gibt Normen im Journalismus, die seit Jahrzehnten feststehen. Man kann sie predigen, aber eigentlich geht es um Reflexion. Eine typische Handlungsmaxime im Umgang mit Informationen ist Check-Recheck-Doublecheck – also deren mehrmalige Überprüfung. Dennoch müssen wir die Implikationen von Social Media für die Branche aufgreifen. In unseren Kursen sitzen Praktiker*innen. Wir legen gemeinsam in einer Art Charta fest, was wichtig ist, um qualitätsvoll arbeiten zu können. Diese wird im Laufe des Studiums weiterentwickelt und reflektiert.
ask – art & science krems: Auch wenn Journalist*innen korrekt arbeiten, vertrauen laut Digital News Report 2022 nur mehr 41% der Menschen Nachrichtenmedien. Wie können Menschen wieder lernen zu unterscheiden, was faktisch richtig ist und was nicht?
Von Lucadou: Das ist das große Thema meines Buchs „Tick Tack“. Das Problem ist: Journalistenwerte und -ethos zählen auf den Plattformen, wo junge Menschen den Großteil ihrer Nachrichten konsumieren, nicht mehr. Radikale Inhalte verbreiten sich da sehr schnell. Die Plattformen haben keinerlei Ambitionen, das zu ändern und in Faktentreue zu investieren. Es ist schwierig, die Unterscheidung den Konsument*innen zu überlassen. Sie können Fehlinformationen von realen gar nicht mehr unterscheiden.
ask – art & science krems: Ist es ein guter Ansatz, die Plattformen in die Pflicht zu nehmen, oder müssen Journalist*innen mehr tun?
Juster: Während der Pandemie haben Suchmaschinen wie Google Informationen von zertifizierten Institutionen und seriösen Plattformen in den Ergebnissen vorgereiht. Zudem sind ja auch Journalist*innen auf den Plattformen unterwegs, die dagegenhalten und Inhalte traditioneller Nachrichtenmedien mitpositionieren. Das ist eine Möglichkeit, weil es ja viel Kritik an institutionellen Medien gab: der Umweg über eine authentische Person, die eine Geschichte mit ihrer Berichterstattung wieder einfängt.
ask – art & science krems: In wichtigen Zukunftsfragen wie einer Pandemie oder der Rettung des Weltklimas geht es weniger um Meinungen, als um Fakten. Wird das zu oft vermischt?
Von Lucadou: Auf Social Media wird die größte Emotion favorisiert. Die Plattformen haben ein finanzielles Interesse an einer möglichst langen Verweildauer. Meinung ist Emotion, und das beschäftigt uns länger als Fakten. Wenn wir emotional betroffen sind, hinterfragen wir auch weniger, ob die Information richtig ist.
Juster: Man kann auch viel Geld mit Fake-Nachrichten machen. Nicht nur Jugendliche, sondern alle Generationen müssen lernen zu hinterfragen: Passt der Kontext, ist die Info aktuell, passt die Bebilderung, wer ist Urheber? Das sind einfache Fragen zur Verifikation.
ask – art & science krems: Verifizieren ist anstrengend. Übersehen wir vor lauter Lust auf Unterhaltung die überzeugende Information?
Von Lucadou: Verschwörungstheorien profitieren davon, dass sie unterhaltsam sind. Sie bedienen Superhelden-Narrative: Das Gute kämpft gegen das Böse. Es gibt eine kleine Gruppe, die es verstanden hat, und die anderen müssen gerettet werden. Diese Muster werden strategisch benutzt.
Juster: Die Proponent*innen vereinfachen meist stark und erreichen so große Bevölkerungsschichten. Qualitätsjournalismus muss aber auch nicht immer trocken sein, sondern kann zugänglich verpackt werden.
ask – art & science krems: Im Journalismus stehen 24 Stunden Berichterstattung aus aller Welt und der Zwang zur Sofort-Analyse schrumpfenden Kapazitäten in Redaktionen entgegen. Wie können Verantwortliche mit diesem Spagat umgehen?
Juster: Wie Journalistinnen und Journalisten diese Situation bewältigen, ist ein persönliches Thema. Wir schauen uns an, welche Qualitätskriterien eingehalten werden müssen, auch wenn es schnell gehen muss.
ask – art & science krems: Julia von Lucadou, in „Tick Tack“ sitzt Ihre Protagonistin Almette bei ihrer Therapeutin und stellt sich vor, wie sie diese Situation auf TikTok umsetzen würde. Wie ändert sich unser Erleben, wenn wir es in Echtzeit kommentieren?
Von Lucadou: Das hat sofort wieder etwas Inszeniertes, Performatives, Künstliches und nimmt etwas weg vom Erleben. Andererseits ist das etwas typisch Menschliches: Schon 1959 beobachtete der Soziologe Erving Goffmann dieses Phänomen in seinem Text „Wir alle spielen Theater“: Man nimmt immer eine innere Bühne mit, je nachdem, mit wem man sich in einem Raum befindet. Social Media spitzen eben viel zu, was vorher schon da war.
Juster: Da geht es auch um eine Form der Wirklichkeitskonstruktion. Wenn Almette erzählt, wie sie bei ihrer Therapeutin ist, dann tut sie das mit ihrem Fokus und dem, was sie in den Vordergrund rücken möchte.
ask – art & science krems: Ist es in einer Demokratie wie Deutschland oder Österreich noch möglich, dass alle hier Lebenden dieselbe Version eines Faktums sehen, lesen oder hören können?
Juster: Man glaubt, Dinge seien eindeutig – aber die Wahrnehmung ist eine unterschiedliche. Dabei fließen viele Faktoren ein, wie auch die Schulbildung. Wahrscheinlich erreicht man nicht alle mit einer Geschichte, einem Faktum.
Von Lucadou: In Social Media sehen nicht alle dasselbe. Wenn man bei TikTok ein Thema eingibt, dann bekommt jeder eine andere Aussage, basierend auf den Daten, die das Medium über die Person gesammelt hat. Da ist dann kein gemeinsames Faktum mehr möglich. Selbst wenn ich alle Seiten erfahren möchte, ist es mir innerhalb dieses Mediums nicht möglich.
ask – art & science krems: Muss der Journalismus Fakten – wie Wahlergebnisse oder Naturgesetze – angepasst auf die jeweilige Audience aufbereiten?
Juster: Das würde ich schon auch sagen. Die einen sind mehr an Zahlen, Daten und Fakten orientiert, die anderen eher audiovisuell. Der Inhalt ist derselbe, die Aufbereitung unterschiedlich. Abgesehen davon, dass man Altersgruppen unterschiedlich anspricht, können wichtige Themen in leichter Sprache verpackt werden, damit sie eine breite Community versteht. Oder inklusiv, sodass auch Leute mit Einschränkungen sie wahrnehmen können.
ask – art & science krems: Die Menschen bewegen sich online verstärkt in ihren Blasen. Trägt diese Fragmentierung der Gesellschaft zum Einnehmen extremer Positionen bei?
Von Lucadou: Die Algorithmen favorisieren Inhalte, die Leute mutmaßlich länger im Medium halten. Denn die einzige Intention ist, so viel wie möglich mit Werbung zu verdienen. Radikales erzeugt höhere Aufmerksamkeit.
Juster: Die Algorithmen lernen mit und spielen ähnliche Inhalte aus. Da ist man in einer Spirale. Man muss aber nicht alles gutheißen, was man sieht, sondern kann auch widersprechen und in den Kommentaren Diskussionen anregen. Die Algorithmen sind darauf ausgelegt, in welchen Themen man sich bewegt, nicht, ob man zustimmt.
Von Lucadou: Wir müssen grundlegend gesellschaftlich darüber nachdenken, warum wir die Informationsweitergabe den reichsten Wirtschaftsunternehmen der Menschheitsgeschichte überlassen. Die machen so viel Geld, dass es ihnen bei den Ohren herauskommt, während uns die Plattformen mit Fehlinformationen und süchtig machenden Algorithmen zumüllen. Da gibt es sogenannte „Growth Manager“, die permanent daran arbeiten, uns noch abhängiger zu machen. Wieso schieben wir dem keinen Riegel vor?
Astrid Kuffner, Nina Schedlmayer