Ljuba Arnautovićs Roman „Junischnee“ lesen, ohne mit den Tränen zu kämpfen: Dafür braucht man wohl ein steinernes Herz. Eindringlich schildert die Autorin darin die Geschichte der Brüder Karl und Slavko, Söhne sozialdemokratischer Eltern, die nach der Februarrevolution 1934 in die Sowjetunion geschickt werden. Von dort treten sie nach Jahren trügerischer Ruhe einen Leidensweg an, gepflastert mit Verhören, Inhaftierungen und Folter. Nur Karl wird überleben, sein Bruder wird im Gulag verhungern.
Von der Seele gesprochen
Ljuba Arnautović setzt noch vor der eigentlichen Eröffnung den Auftakt zu den Europäischen Literaturtagen. „Junischnee“ ist ihr zweites Buch – eine Fortsetzung des Debüts „Im Verborgenen“. Dieses erzählt von einer Frau, Genoveva, im Wien des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus, die ihre Kinder verliert und einen jüdischen Freund als U-Boot in ihrer Wohnung versteckt. Beide Romane basieren auf der Geschichte ihrer Familie: Karl hieß ihr Vater, Genoveva war dessen Mutter.
Ljuba Arnautović wurde 1954 in Kursk als Tochter von Eltern geboren, die einander im Gulag kennenlernten. „Drei Länder, vier Mütter, zwei Kinderheime, zehn Wohnungen, zwölf Schulen“, so schildert sie lapidar auf ihrer Website ihre Kindheit und Jugend zwischen Sorgerechtsstreitigkeiten traumatisierter Eltern. Im Gegensatz zu anderen, die Furchtbares erlebt hatten, erzählte Vater Karl von seinen Erlebnissen. „Jüdische Verfolgte sprachen oft nicht über ihre Erlebnisse, meist um Kinder und Enkel zu schützen“, erzählt Arnautović, eine Frau, die gern lacht und scharf beobachtet, bei einem Treffen mit ask – art & science krems im Wiener Café Jelinek. „Manche erkannten aber, dass man sich etwas von der Seele sprechen kann. Für meinen Vater war es wichtig, die Geschichten aus dem Gulag zu erzählen.“ So kamen diese zu ihr, ohne dass sie danach gesucht hätte.
Falsche Verwendungsgruppe
Am Anfang ihrer späten literarischen Laufbahn stand die Idee zu einem Radiofeature über Onkel Slavko: Sie verfügte über Aktenmaterial, das ihn betraf. Arnautović, damals Mitarbeiterin des ORF, konnte dies aber nicht umsetzen: Nachdem dieser 2004 alle freien Journalist*innen anstellen hatte müssen, wurde sie zur schlechter bezahlten Sekretärin – was nur Frauen geschah. Wäre das Feature umgesetzt worden, hätte sie „in einer anderen Verwendungsgruppe angestellt werden müssen“, erzählt sie. Danach dachte sie an einen Dokumentarfilm. Ein Filmemacher sagte ihr, dass das Material besser für einen Spielfilm geeignet wäre. Also reichte sie ein Exposé ein. Daraufhin kam in der Jury für die Filmförderung die Frage auf, warum sie keinen Roman daraus mache. Somit wurde aus der Sekretärin eine Schriftstellerin. „Ich dachte, bei der Literatur geht es um was Neues, Avantgardistisches, das sei der Anspruch der Zeit“, erinnert sie sich amüsiert. Selbst fix davon überzeugt, dass ihre Stärken woanders lägen, wurde ausgerechnet ihre Sprache in den Rezensionen des ersten Buchs sehr gelobt. Wie später „Junischnee“ erntete auch „Im Verborgenen“ begeisterte Kritiken. An einer Fortsetzung der beiden Bücher arbeitet sie bereits. Im dritten Band wird sie selbst eine der Figuren sein. Zuvor fürchtete sie sich etwas davor. Mittlerweile ist die Angst gewichen.
Wenige Worte
Arnautović kann mit wenigen Worten eine Situation skizzieren und führt ihre Leser*innen ganz dicht an das Geschehen heran. Etwa wenn sie in „Junischnee“ einmal einen Zellengenossen des jugendlichen Karli beschreibt – wie heute Wladimir Putin sperrte auch das Sowjetregime willkürlich Menschen ein, sogar Kinder. In Haft trifft Protagonist Karl auf den dreizehnjährigen Sascha, der krank ist von der harten Zwangsarbeit: „Die Haut in Saschas fahlem Gesicht bildet graue Falten, was ihm das Aussehen eines Greises gibt. Oder eines Totenschädels, denkt Karl widerwillig. Der Körper wirkt dagegen wie der eines Neunjährigen.“ Auf der nächsten Seite wird „die Leiche des kleinen Greises fortgebracht“. Was konkret in Arnautovićs Romanen realen Ereignissen entspricht und was nicht, spielt für die Lektüre dieser knappen, spannungsvollen und dichten Literatur keine Rolle.
Mut der Mütter
In Krems hält Arnautović im Rahmen der Vermittlungsschiene „Europäische Autor*innen hautnah“ auch an der Neuen Mittelschule eine Lesung. „Ich habe schon zweimal an Schulen gelesen, das war eine schöne Erfahrung“, sagt sie. „Einige Kinder waren wirklich interessiert, stellten Fragen zum Krieg, aber auch zum Schreiben.“ Aus ihren Büchern lässt sich viel über Geschichte lernen. Für manche wohl mehr als im Schulunterricht, in dem es noch immer häufig um Jahreszahlen, siegreiche Heere und Kriegserklärungen geht, selten jedoch um den Alltag der Menschen. „Ein Feldherr musste oft nicht so viel Mut beweisen wie eine Frau, die ihre Kinder durchbringen musste“, betont die Schriftstellerin. Ihr eigenes Interesse weckte einst eine Hortbetreuerin im Wiener Karl-Marx-Hof, einem ihrer vorübergehenden Wohnorte als Kind. Der Gemeindebau war Epizentrum der Februaraufstände 1934, wo der republikanische Schutzbund gegen die Heimwehr kämpfte. Die Hortbetreuerin zeigte den Kindern damals die Einschusslöcher, die noch zu sehen waren. Wurde für die kleine Ljuba Geschichte durch die Verwundungen der Architektur greifbar, so erweckt sie diese Jahrzehnte später zum Leben. Wer ihre Bücher liest, nimmt ebenfalls Versehrungen in Kauf. Doch das ist es, was gute Literatur im besten Fall macht: Sie lässt einen verändert zurück.