Aus ihrer ersten Barockkirche wollte Kunsthistorikerin Anja Grebe noch davonlaufen. Madonnen waren nicht ihr Ding. Doch die Auseinandersetzung mit Kunst, sei es beim Betrachten, beim Erforschen oder beim Vermitteln, „verlangt uns oft einen zweiten Blick ab. Wenn wir uns auseinandersetzen, unserem inneren Widerstand stellen und mehr über den Kontext erfahren, gibt es viel zu entdecken und zu lernen – auch für das Heute“, beschreibt die Professorin für Kulturgeschichte und Museale Sammlungswissenschaften. Sie arbeitet an der Universität für Weiterbildung Krems an der Schnittstelle zweier, oft getrennt geführter Fachbereiche, die sie stets gemeinsam bearbeitet hat: dem kunsthistorischen und dem sammlungswissenschaftlich-konzeptionellen. 2015 bewarb sie sich auf die Ausschreibung der Professur und wechselte von ihrer Stelle an der Universität in Freiburg/Breisgau, nahe des Donau-Ursprungs, nach Krems in die Wachau.
Anja Grebe ging schon als Kind gerne ins Museum und tut es bis heute – nicht nur beruflich, auch zum Vergnügen. Im Studium hat sie verinnerlicht, dass Kunstgeschichte immer ein Dialog ist, ja vom Dialog lebt. Vom Diskurs und der Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen und denen anderer Menschen, dem Material, der Umwelt. Das ist gut so, denn sonst kann es kaum gelingen künftige Generationen an vermeintlich alte „Schinken“ heranzuführen.
Erfahrungen erarbeiten und ermöglichen
Die Überwindung eigener Vorurteile und das Erarbeiten eigener Seherfahrungen leiten sie bis heute bei ihrer Arbeit als leidenschaftliche Vermittlerin, Lehrende und Forschende. Über die sinnlichen Eindrücke auf Renaissancegemälden gerät die 54-Jährige gerne ins Schwärmen. Was braucht es aber, um andere Betrachter*innen abzuholen? Es braucht Kontext in Form von materiellen, wirtschaftlichen, politischen, religiösen und kulturellen Rahmenbedingungen, Informationen zum Menschsein in jeder Epoche, mit den dazugehörigen Wahrnehmungen, Träumen und Grenzen des Möglichen. Damit sich hinter dem Bild die Lebenswelt der Menschen erschließt. Nicht nur der Urheber*innen, auch der Auftraggeber*innen, der Sammler*innen, Aussteller*innen, Bewahrer*innen. „Wir müssen uns bewusst machen: Was wir heute als mittelalterliche Kunst bewundern, ist nur ein Bruchteil des Geschaffenen. Und genau hier lässt sich mit den immer gültigen Fragen ansetzen: Warum ist das noch da? Was war der Standard und was die Abweichung? Was wurde im Laufe der Zeit seit der Entstehung alles hineingelesen? Welche Verbindungen tun sich auf?“, so Grebe. Wenn man es weiß, erzählt das Blau des Madonnenmantels viel über sein Publikum, den Anlass, den Ausstellungsort, die Kosten und den Globalisierungsgrad. So war das Pigment Azurit in Europa verfügbar, Ultramarin kommt aber zu einem entsprechenden Preis bis heute aus Afghanistan. Diese „Welt dahinter“ sollte in Ausstellungen und Vermittlungsaktivitäten mittransportiert werden.
Im Gespräch mit MuseumsMenschen
Für die vielen historischen Stadtmuseen in Niederösterreich hat Grebe das Projekt „MuseumsMenschen“ geleitet und die Ergebnisse nicht nur als Broschüre, sondern auch als App gefasst. Mit ihr können sich Besucher*innen von den Museumsgründern durch die Räume begleiten lassen und mit ihnen chatten. Generationenübergreifend haben sich etwa im Stadtmuseum Korneuburg Schüler*innen und Senior*innen gemeinsam mit Alltagsobjekten aus der Sammlung auseinandergesetzt und die Web-App erweitert. Museen sind Teil des Kulturerbes von Niederösterreich, das als Bundesland 1922 offiziell von Wien getrennt wurde. Zum 100-Jahr-Jubiläum steht es in seiner ganzen Breite im Fokus. Kulturelles Erbe, das sind für Anja Grebe neben vermarktbaren Kunstschätzen auch die dunklen, verdrängten Winkel. Neben den Werken und Sammlungen auch die mit dem kulturellen Erbe verbundenen Praktiken, die Alltagskultur oder die Raubkunst. Für die Kunsthistorikerin jedenfalls ein guter Grund, ein eigenes Symposium zum Thema anzusetzen.
Sammeln gehört zum Menschsein
„Menschen haben immer gesammelt. Das ist so etwas wie eine anthropologische Konstante. Nahrung wurde verbraucht, anderes für das Gedächtnis aufbewahrt. Was war es wert, verewigt zu werden, wie wurde das ausgewählt und wie geordnet?“, fragt Anja Grebe. Gerade dringt sie in einem Projekt gemeinsam mit dem Österreichischen Archäologischen Institut der Akademie der Wissenschaften, dem Naturhistorischen Museum in Wien und dem Fachbereich Biomechanik der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften noch tiefer in der menschlichen Geschichte vor. Die archäologische Ausgrabung der 30.000 Jahre alten Zwillinge vom Wachtberg – inzwischen in einzelne Knöchelchen zerlegt und gelagert – sucht hier Anschluss an moderne, digitale Möglichkeiten wie 3D-Scan und innovative Datenbankerfassung, was neue Forschungsfragen ermöglichen soll.
Die Objekte selbst, ihre Nutzung – auch zur Vermittlung – sind Anja Grebe ebenso ein Anliegen wie die Weitergabe von Wissen in der Lehre. Gemäß dem Dialog-Gebot der Kunstgeschichte ist sie gerne im Austausch mit den Studierenden und unterrichtet in den Lehrgängen Collection Studies and Management (MA), Digitale Kulturvermittlung in Museen und Sammlungsinstitutionen und Digitales Kuratieren in Museen und Sammlungsinstitutionen.
Was kann uns nun die Kunst aus dem Mittelalter für das Heute mitgeben? fragt ask – art & science krems. Anja Grebe: „Das Mittelalter erzählt uns etwas über Tugenden, die heute bei aller Verfügbarkeit des Weltwissens via Mausklick dringend wieder in Mode kommen müssen: nicht über unsere Verhältnisse zu leben, mit Ressourcen hauszuhalten und das Materielle, aber auch die Gemeinschaft, wertzuschätzen.“
Astrid Kuffner