Wer einen Vorlass übergibt, wird mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert. Weil keine historischen Bestände gesammelt werden, geht das Archiv der Zeitgenossen aktiv auf Künstler*innen der Sparten Musik, Literatur, Architektur und Film zu. Wie stellt man also die entscheidende Frage? Helmut Neundlinger, seit November 2021 Leiter des Archivs, sieht es gelassen, kommuniziert die Vorteile: „Die Anfrage bestätigt die Reputation, und der Vorlass wird vom Land Niederösterreich angekauft. Was einer Institution übergeben wird, bleibt sicher verwahrt, wird entsprechend gelagert, konservatorisch und restauratorisch behandelt, gemeinsam aufgearbeitet und zugänglich gemacht.“ Die Vorlassgeber*innen bestimmen selbst, was sie übergeben: Skizzen, Fotos, Korrespondenz, Tagebücher, annotierte Werke u. a. Es werden Vereinbarungen getroffen, was erst nach dem Tod zugänglich sein soll, was erst einmal gesperrt bleibt. Für den Literaturwissenschaftler aus Oberösterreich, der zuvor ab 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für museale Sammlungswissenschaften der Universität für Weiterbildung Krems war, ist klar: „Mit der Betreuung beginnt eine intensive Kooperation. Vorlässe übernehmen ist Beziehungsarbeit. Als forschende Institution müssen wir uns dennoch um eine kritische Distanz bemühen. Gar nicht so einfach.“ Die Reflexion darüber wird auch bei der Tagung „Gespeicherte Gefühle – Affekte im Archiv“ zum Thema gemacht.
Nur ein Archiv unter vielen?
Schriftsammlungen, Literaturhäuser und Archive gibt es in jedem Bundesland, oft festgemacht am Bestand einer historischen Person oder Institution (Franz-Michael Felder, Adalbert Stifter, Franz Nabl, Der Brenner), und in Bundesinstitutionen wie der Nationalbibliothek. Das Archiv der Zeitgenossen hat mit dem Fokus auf die zeitgenössische Kunstproduktion einen Sonderstatus in dieser Landschaft. Es wurde im Juni 2010 eröffnet, auf Initiative des kulturaffinen Ex-Landeshauptmanns Erwin Pröll, geplant und adaptiert als Repräsentationsort vom Architekten Adolf Krischanitz, errichtet über dem unterirdischen Lager der ehemaligen Filmbar, mit Gründungsdirektorin Christine Rigler. Es ist verankert an der Universität für Weiterbildung Krems mit den Aufgaben Aufarbeitung, Erschließung, Benutzung und Forschung. Seit 2022 sind auch die Literaturbestände der Landessammlungen unter dem Dach des Archivs und damit die „Flachware“ im Besitz des Landes Niederösterreich an einem Ort vereint. So können neben dem Prozess der künstlerischen Entwicklung auch Provenienzen, Netzwerke und Kontinuitäten in der österreichischen Literatur- und Kunstszene verfolgt werden. Zielgruppe ist die Öffentlichkeit ebenso wie am Bestand Forschende, die von den Literatur- und Musikwissenschafter*innen, einer Kunsthistorikerin und dem Archivar/Bibliothekar betreut werden. 2021 wurde zur Öffnung nach außen gemeinsam mit Zentrumsleiterin Natalie Denk der Escape Room „Der Traum der Archivarin“ gestaltet. Da können Kinder und Erwachsene erleben, „was wir für irre Dinge sammeln“.
Die Wende mit Wendelin
Seine Berufung fand der neue Archivleiter in der Betreuung des Nachlasses von Wendelin Schmidt-Dengler, Doyen der österreichischen Germanistik an der Universität Wien, sein eigener Doktorvater und inspirierender Lehrer vieler Menschen in Österreich, die heute als Schriftsteller*innen aktiv sind. Schmidt-Dengler leitet eine Art Wende ein – vom Nachlass (und der Suche in Antiquariaten) – zum Vorlass, „denn die wertvollsten Informationen über das Material bekommt man von den Menschen, die es produziert haben“, so Neundlinger. „Wo sind die Zeitgenossinnen?“, will ask – art & science krems wissen. Mit dem Relaunch der Webseite werden neben Architekt Wolf D. Prix, Filmemacher Peter Patzak († 11.3.2021), den Komponisten Friedrich Cerha, Kurt Schwertsik und HK Gruber, Musikverleger Alfred Schlee († 16.2.1999) sowie den Schriftstellern Peter Turrini und Julian Schutting auch die Autorinnen Zdenka Becker, Ilse Helbich und Ilse Tielsch sichtbar. Mit Renate Welsh ist Neundlinger bereits im Gespräch über eine Aufnahme ihres Vorlasses ins Archiv.
Die Formel zum Erfolg
Viele von uns haben eine Kiste, in der sie Briefe, Fotos, Eintrittskarten etc. aufbewahren. Wie wird aber ein analog/digital gemischter Vorlass solide aufbereitet? State-of-the-Art nach dem RNAB-Regelwerk, das von deutschsprachigen archivarischen Institutionen in einem langen Prozess entwickelt wurde. Don’t try this at home. Sich mit der Sinnlichkeit des Materials zu befassen, ist nicht nur für die Archivmitarbeiter*innen inspirierend. Eine Erfahrung, die Helmut Neundlinger schon oft gemacht hat.
Astrid Kuffner