Sechs Stunden und 47 Minuten: So lange dauert eine Autofahrt von Uschhorod nach Krems, sagt der Routenplaner. Der Weg in die Westukraine, wo diese Stadt liegt, ist nicht länger als der von Niederösterreich nach Vorarlberg. Vielen Menschen in Österreich rief erst der Ukraine-Krieg wieder ins Bewusstsein, wie nahe dieses Land doch ist.
Multitalent
In Uschhorod lebt momentan, vom Krieg hierher getrieben, die 1985 geborene Julia Stakhivska – wenn sie nicht gerade, wie jetzt, im Ausland ist. Die Ukrainerin ist vielfach begabt. Denn sie schreibt – ihre hauptsächliche literarische Arbeit, wie sie sagt – nebst anderen Texten auch Gedichte und Kinderbücher, gibt Anthologien heraus, illustriert Bücher, übersetzt vom Polnischen ins Ukrainische und übernimmt auch Aufgaben im Kulturmanagement: Bis Februar 2022 koordinierte sie das Programm des Polnischen Instituts in Kyiv. Nun ist sie auf Einladung des Literaturhauses Niederösterreich Gast in einem der Studios des internationalen Stipendienprogramms AIR – ARTIST IN RESIDENCE Niederösterreich, das zweite Mal in diesem Jahr: Bereits im Frühjahr verbrachte sie einige Zeit hier. Nur wenig von Stakhivskas Werk ist ins Deutsche oder Englische übersetzt.
„Waisenhäuser der Lexika“
Dennoch gewinnt man anhand einiger Gedichte Einblick in ihre gewitzte und bildhafte poetische Sprache. In einem Werk mit dem Titel „stundenbuch“ reflektiert sie über Sprache: „die wörter – kinder ohne namen – sind novizen / die den versprochenen kelch hochreichen / sie schlafen in den waisenhäusern der lexika / erwachen nass aus mutterträumen.“ Ein anderes Gedicht widmete sie der großen ukrainischen jüdischen Dichterin Rose Ausländer. Eine Zeile darin lautet: „Immer schwerer wird es die Traumbrust zu lassen / ihre Milch ist schwarz und süß.“ Die „schwarze Milch“ kommt auch in einem Gedicht Ausländers vor, berühmt wurde sie durch Paul Celans „Todesfuge“, der wie Ausländer in Czernowitz aufwuchs. Im Gespräch mit ask – art & science krems sagt Stakhivska: „Die Ukraine muss über Poesie im Kontext von Celan und Ausländer nachdenken.“ Das ukrainische Kulturgeschehen sollte sich mehr in der multikulturellen Tradition, für die diese und viele andere stehen, darstellen. Die Kulturgeschichte ihres Landes beschäftigt sie derzeit sehr. „Nicht nur außer-, sondern auch innerhalb der Ukraine wissen die Leute zu wenig über historische Fakten.“ Ihr jüngstes Buch heißt „Sonja und die Welt der Farben“, es ist die Geschichte von Sonia Delaunay: „Sie gilt als französische Künstlerin, dabei ist sie in der Ukraine geboren! Ihre Biografie ist wie ein Palimpsest. Auch Kasimir Malewitsch ist gebürtiger Ukrainer, gilt aber immer als Russe.“
Dokumente, Geld, Koffer
Der Ort, in dem Stakhivska bis Februar 2022 lebte, war bis zum Frühjahr unbekannt. Dann wurde er zum Symbol für die Gräuel dieses Krieges, für Menschenrechtsverletzungen und unsagbares Leid: Butscha. Stakhivska verließ ihre Stadt sehr bald. „Ich war vorbereitet. Ich hatte die Nachrichten gelesen und verstanden, wie schwierig die Situation ist. Da beschloss ich, meine Dokumente, Geld sowie einen Koffer herzurichten und verließ einige Tage vor der Invasion Butscha mit meiner Tochter. Wir gingen nach Schytomyr, meine Heimatstadt, später nach Uschhorod.“ Für die „Deutsche Welle“ schrieb sie einige Kolumnen über ihre Flucht und darüber, wie es ist, von einem Tag auf den anderen die Sachen zu packen und das Zuhause zu verlassen.
Kraft tanken
Julia Stakhivska blickt trotz des Leides, der Traumatisierung, des Verlusts von Heimat und Sicherheit in die Zukunft. Ihr Krems-Aufenthalt, sagt sie, hilft ihr, Kraft zu tanken, die sie nach ihrer Rückkehr in die Ukraine braucht. „Ich bekomme hier das Gefühl eines guten und friedlichen Lebens“, sagt sie. „Eines, wie ich es in Butscha hatte. Bevor es zerstört wurde.“ An Emigration denkt sie nicht. „Ich möchte meine Familie nicht verlassen.“
Im Oktober möchte sie nach Kyiv fahren und das Polnische Institut besuchen, das nun an einem anderen Ort als zuvor ist. Und sie erzählt über ein Buch der polnischen Reporterin Anka Grupińska, das sie gerade übersetzt. Grupińska schrieb über den Aufstand im Warschauer Ghetto und führte dafür in den 1980er-Jahren Interviews mit dessen Anführer Marek Edelman. „Das Buch half mir, die Logik von Menschen in Konflikten zu verstehen. Im Warschauer Ghetto verstanden die Menschen genau, was passiert. Doch sie kämpften trotzdem weiter“, erzählt Stakhivska. „Dieses Buch gibt mir Hoffnung.“
Nina Schedlmayer
Eine Antwort
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