ask – art & science krems: Frau Fink-Mennel, Frau Müller, beginnen wir mit den Basics: Wie würden Sie Bildung definieren?
Beatrice Müller: Wir gehen von einem Humboldtschen Bildungsbegriff aus. Dieser wandelt sich. Es geht zwar darum, Wissen und Fähigkeiten anzuhäufen, die auch gesellschaftlich genutzt werden, aber dazu haben nicht alle Zugang. Die modernere Auffassung sagt, dass dieser aber gewährleistet sein muss. Der Bildungsbegriff muss sich auch deswegen ändern, weil wir die Digitalität und deren Folgen einrechnen müssen. Ich kann ja mit einem Telefon zu allem möglichen Wissen Zugang haben, aber was mache ich damit? Was ist relevant, was wahr, was wichtig? Das macht das Ganze fluider.
Evelyn Fink-Mennel: Vieles von dem, was Sie sagen, kann ich nur unterstreichen. Wenn wir die Frage nach der Definition von Bildung auf die Musik beziehen, muss man natürlich klären: Reden wir von der Schule? Von der Gesellschaft allgemein? Wir leben heute in verschiedenen „Blasen“ mit unterschiedlichen Ansprüchen und Vorlieben, gerade in der Musik. Daher sehe ich in der frühen Schulbildung Wege zur Selbstermächtigung, also Fähigkeiten über das Tun zu erwerben, als zentrale Strategie an. In der Schule gibt es einen differenzierten Bildungskanon, in der Musik, hinsichtlich eines gemeinsamen Repertoires fehlt er, der Kanon genügt sich mit der Bestimmung isoliert voneinander zu erwerbender Fähigkeiten. Die Repertoirewahl sehe ich dabei als ein demokratisches Feld. Dabei priorisiere ich, Kinder und ihre Herkunftsfähigkeiten in die Mitte zu holen. Beispielsweise bringen sich Kinder, die sich auf Deutsch noch nicht so leicht verständigen können, mittels ihrer Herkunftsmusik, einem Lied, einem Tanzschritt oder Auszählreim in die Klassengemeinschaft ein. Deutschsprachige Kinder tun dasselbe. Gerade das Fach Musik ist der Ort für solch offene Zugänge und der, an dem ressourcenorientiert Vorwissen genutzt und ausgebaut werden kann. Hier kann die Klasse zur eigenen peer-group werden, die von- und miteinander lernt. Das braucht Lehrende, die damit kreativ umzugehen wissen. Das wäre für die Curricula der Lehrerausbildung wünschenswert und dafür arbeite ich.
ask – art & science krems: Der Bildungskanon schien früher von der Volksschule zur Matura fixiert zu sein. Da war festgeschrieben, was man kennen musste – vielleicht Mozarts „Alla Turca“. Doch die Gesellschaft hat sich gewandelt. Muss sich damit nicht auch der Kanon ändern?
Müller: Die Idee hinter einem Kanon ist, dass man eine gemeinsame Basis hat, auf der man aufbauen kann. Im besten Fall ist der Kanon partizipativ zu Stande gekommen. Nun hat der Kanon aber zum Gegenteil davon geführt. Ein Kanon ist etwas extrem Subjektives. Der Literaturkanon ist weiß und männlich geprägt, in der Musik ist es sicher ähnlich. Es wird zu wenig zur Seite geschaut. Doch immer mehr wehren sich dagegen, nicht repräsentiert zu werden, zum Beispiel die Autorin Melisa Erkurt in ihrem beliebten Buch „Generation Haram“, ebenso in ihrer Kolumne im „Falter“ und ihrem Podcast. Das ist ein gutes Beispiel für Empowerment. Auf der anderen Seite werden die Curricula verschärft. Sie verabschieden sich nicht von alten Normen, sondern es werden nur noch mehr Inhalte hineingesteckt. Infolgedessen ist für eigene Zugänge kein Platz mehr. Das ist extrem problematisch.
Fink-Mennel: Ein Kanon ist das Einfachste, man kann ihn leicht abprüfen. Wenn man beispielsweise „Alla Turca“ nicht nur an abprüfbaren Fakten von Entstehungsjahr, den Fakten zum Werkkomponisten und seiner Bedeutung für die abendländische Musikgeschichte behandelt, sondern auch den Kulturraum, worauf der Titel Bezug nimmt, also etwa auch soziokulturelle Zugänge der damaligen „Türkenmode“ mit dem Heute kontextualisiert, macht das Beispiel „Alla Turca“ ganzheitlich Sinn. Heute gibt es schon Studienangebote, diese gesellschaftliche Heterogenität auch von musikalischer Seite produktiv einzusetzen. Aber wenn wir so idealtypisch von Bildungsinhalten reden, so muss man auch sagen, dass Lehrer und Lehrerinnen vermehrt andere Aufgaben leisten müssen. Überhaupt allgemeine Erziehungsarbeit leisten in Form der Schulung von Aufmerksamkeitsfähigkeit oder Grundkompetenzen in sozialen Umgangsformen. Bildung und Erziehung geht zuhause los, nicht erst in der Schule.
Müller: Ich gebe Ihnen recht, dass Bildung möglichst früh beginnen muss. Auf Musik reagieren Kinder sehr schnell, und sie lernen, bei einer Sache zu bleiben. Auch, dass sie selbst etwas beeinflussen können. Das formt das Gehirn. Aber das kann manchmal in Familien nicht geleistet werden. Weil manche auf engem Raum wohnen oder arbeiten müssen, um zu überleben, oder ihnen fehlt einfach der Zugang.
Fink-Mennel: Da bin ich bei Ihnen. Wir sind uns dieser Realitäten bewusst, dass heutige Familienmodelle vieles nicht mehr leisten können. Aber wir könnten versuchen, erfolgreiche Modelle generationenübergreifenden Lernens dosiert in die Schule zu transferieren. Im Tiroler Längenfeld kommt ein Ehepaar wöchentlich und singt mit den Volksschulkindern. In sozialer und musikalischer Hinsicht äußerst erfolgreich, sagt die Direktorin. Opa oder Oma kommt in die Klasse des Enkelkindes und macht Lesestunden. Erfolgreich in Bregenz durchgeführt. Wenn wir die Bedeutung solcher Rituale für das Heute in die Schule transferieren und versuchen, den Kindern ein altersgerechtes und anregendes Lernumfeld zu bereiten, ist viel gewonnen. Da ist auch der Mut zu informellen Settings gefragt. Als ich Musikpädagogik studierte, da war im Fach Psychologie kaum die Rede von altersspezifischem Erleben und Verhalten.
Müller: Kindergartenpädagoginnen und -pädagogen machen viel Wertvolles. Sie können Zugang zu Musik, Kunst und Bildungsräumen ermöglichen. Mein Achtjähriger war es von Anfang an gewöhnt, ins Museum zu gehen – aber das geht, weil ich es leisten kann. Bis zum Schuleintritt ist schon so viel passiert. Da geht schon eine Schere auf. Kann die Schule diese ausgleichen? Nein, auch wenn es ohne Schule viel schlimmer wäre. Daher müssen wir viel früher ansetzen.
Fink-Mennel: Dabei ist das „Spielen lernen“ wichtig, sich mit etwas beschäftigen und vertiefen lernen. Dabei Regeln oder ein Ziel auszuhandeln und das Spiel zu vollziehen bis hin zur Akzeptanz des Spielausgangs. Auf Ö1 sagte eine Volksschullehrerin, die häufigste Hausaufgabe, die sie gebe, sei, die Kinder auf den Spielplatz zu schicken. Obwohl ich Musikpädagogik studiert habe, war mein Mann in der Erziehung unserer Kinder viel näher an der Realität: Er spielte mit ihnen, verfolgte eine Didaktik der Zuwendung, des Begleitens, des Forderns und Förderns im Spiel und einer Feedbackkultur. Lauter vertrauensbildende Maßnahmen weitab einer Sender-Empfänger-Strategie.
ask – art & science krems: Sie arbeiten beide auch in Migrationskontexten. Frau Fink-Mennel, bei Ihrem Projekt „Migraton“ treten Musikerinnen und Musiker auf, die beispielsweise aus dem Senegal kommen und in Vorarlberg leben; Frau Müller, Sie befassen sich mit Sprache in der Migrationsgesellschaft. Im öffentlichen Diskurs geht es immer darum, was Leute, die anderswo geboren sind, lernen können oder sollen von denen, die schon lange hier sind. Wieso geht das nie in die andere Richtung?
Fink-Mennel: Wenn man gemeinsam spielt, bildet man eine Kontaktfähigkeit aus. Kinder und Jugendliche sind neugierig und fragen andere: Wie heißt das in deiner Sprache? Sie lernen im Tun und auf Augenhöhe voneinander. Man kann auch über Rituale reden. Das vergessen wir oft, weil es konservativ scheint. Musik ist dabei ideales Handwerkszeug und Bindeglied. Beispielsweise bringt ein ungarisches Mädchen der Klasse bei, auf Ungarisch zu zählen und es entsteht ein Gstanzl (beginnt zu singen): egy, kettö, három, négy, öt, hat, hét, nyolc, kilnc, tíz. Dann gibt es vielleicht noch die Lehrerin, die französisch spricht und einen Afghanen und eine Österreicherin. Sie singen und zählen dann solo in jeweils ihrer Sprache und machen auf Hip-Hopper und dazwischen singen alle gemeinsam einen Jodler (singt wieder): hollari hollareiduljo – und patschen dazu. All das funktioniert quer durch Österreichs Schulklassen. Da erleben wir echte Sternstunden! Kinder haben in erster Linie Spaß und lernen nebenbei dann die Faktoren, die im Bildungskanon so trocken daherkommen wie: Tonhöhen unterscheiden und nachsingen können, den Puls halten und in Bodypercussion übersetzen können, auf Agogik reagieren können, verschiedene Aktionsformen kombinieren können.
Müller: Das klingt wunderbar und ist das Beste, was es geben kann. Zurück zur Frage, ob nur Deutsch gefragt ist. Der nationale Bildungsbericht beschäftigt sich nur mit Deutsch. Es geht nicht darum, was Kinder mit anderen Sprachen einbringen können. Natürlich klingt es logisch, dass sie Deutsch lernen müssen, um dem Unterricht folgen zu können. Aber in den 2018 eingeführten Deutschförderklassen geht es nur um Deutsch. Das ist alles, was unter Bildung verstanden wird. Aber da wird so viel anderes ausgeblendet – etwa, dass Kinder selektiert werden: Der Großteil des Unterrichts findet nämlich nicht in der Stammklasse statt. Wie sollen sie dann Teil der Klasse werden? Und was macht das mit anderen, die sehen, dass die Kinder nicht Teil der Klasse sein dürfen? Die Kinder lernen, wenig überraschend, nicht schlecht Deutsch. Aber ihnen entgeht alles andere: Mathematik, andere Fremdsprachen, Sachunterricht, künstlerischer Unterricht. Erst später, wenn sie einen bestimmten Test bestehen, kommen sie in die Regelklasse. Dadurch kann ein Schuljahrverlust entstehen. Das ist, wie wir wissen, schlecht: Kinder, die ein Jahr verlieren oder zwei, brechen häufiger ab und haben schlechtere Abschlüsse.
ask – art & science krems: Wenn beispielsweise in einer Stadt wie Wien sehr viele Menschen andere Sprachen sprechen, sollte da nicht zum Bildungskanon zählen, was zum Beispiel Hallo auf Türkisch heißt?
Fink-Mennel: Egy, kettö, három! Warum ändern wir nicht die Art des Unterrichts? Warum denken wir das mit den Sprachen nicht anders und geben die Schulbücher auch mal weg? Die Kinder lernen vor allem dadurch, andere zu kopieren. Wieso nutzen wir das Imitationslernen nicht bewusst stärker? Wenn meine Studierenden in eine Schulklasse zum Unterricht gehen, dann informieren sie sich über die Zusammensetzung der Schulklasse und – sollten Kinder mit anderer als deutscher Muttersprache dabei sein –, dann müssen die Studierenden ein Lied, einen Tanzschritt, eine sprachliche Referenz zu dieser Community mit im Unterrichtsgepäck haben, sonst lasse ich sie nicht vor die Schulklasse treten.
Müller: Kürzlich fragte ich die Kinder in einer zweiten Klasse: Was ist guter Unterricht? Sie hatten keine Ahnung, was ich meine, weil für sie völlig klar war, was Unterricht ist. Sie kamen nicht auf die Idee, dass sie dafür nicht unbedingt am Tisch sitzen müssten. Auch wenn Volksschulen schon viel weiter sind als früher. Aber im Gymnasium sitzen die Kinder wirklich nur mehr vor Schulbüchern. Was übrigens nicht dem Humboldtschen Bildungsideal entspricht. In Bezug auf Mehrsprachigkeit muss man fragen: Was macht es, wenn immer nur eine Sprache wichtig ist? Wenn immer nur Deutsch relevant ist? Das blendet einen Teil des Individuums aus.
ask – art & science krems: In den Diskussionen über Bildung ziehen sich einige der Themen seit Jahrzehnten durch – die Undurchlässigkeit des Bildungssystems, die Vernachlässigung von freieren Zugängen, das Formalisierte, das Verdrängen künstlerischer Fächer. Seit Jahrzehnten weiß man, dass all das schlecht ist. Warum ändert sich das nicht oder kaum?
Fink-Mennel: Mir sagte ein hochrangiger Politiker, mit dem ich über die Transfereffekte von Musik in der Schule sprach: „Wir wollen gar nicht so viel kreative Leute. Wir wollen Leute, die Anforderungen erfüllen.“ Da wundert man sich über nichts mehr. Das ist erst fünf Jahre her. Ein unglaublich entlarvendes Statement.
Müller: Ich kann nur das bestätigen, was Sie anekdotisch erzählen: Weil es so gewollt ist. Es gibt offensichtlich andere Intentionen. Ich möchte das aber nicht allein stehenlassen. Denn es gibt auch eine Bewegung, die klar macht: Ihr könnt uns nicht ignorieren! Wenn wir mit „Alla Turca“ so umgehen, wie Sie es gerade skizziert haben – und das können viele Lehrerinnen und Lehrer ziemlich gut! – dann können wir den Schüler*innen das mitgeben. Dann haben wir die Möglichkeit, die Gesellschaft im Positiven zu verändern. Und das geschieht zum Glück immer mehr.