Zwei Seelen wohnen in ihrer Brust. Doch für Hanna Mayer ist das kein Grund zum Wehklagen. 2021 wurde die Professorin für Pflegewissenschaft – Spezialgebiet personenzentrierte Pflege und Pflege von dementen Personen – an die Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften geholt. Die diplomierte Krankenpflegerin beschäftigt sich seit mehr als drei Jahrzehnten mit Pflege in Theorie und Praxis. Ebenso lange steht sie als Amateurschauspielerin auf der Bühne. Maria Callas, Puck, Antigone, die „Rösselwirtin“ Josepha Vogelhuber, Büchners Leonce oder Schwabs Mariedl zu verkörpern, ist für sie Ausgleich zur fordernden Arbeit und wichtige Ergänzung.
Mensch im Mittelpunkt
Was bedeutet nun personenzentrierte Pflege? Sollte der Mensch nicht immer im Mittelpunkt stehen? „Es geht um die Rehumanisierung des Gesundheitswesens, das derzeit stark am System ausgerichtet ist: am Durchschnitt, an abrechenbaren Leistungen und Zeiteinheiten. Personenzentrierte Pflege will das Individuum im Behandlungs- und Betreuungsprozess ins Zentrum stellen, niemanden wie ein Objekt behandeln oder nur durch die Krankheit definieren.“ Schließlich bringt jede*r ins Spital oder ins Heim das eigene Leben mit Erfahrungen, Werten und Fähigkeiten mit.
Die Pflegewissenschaft versucht mit Beobachtungen, Messungen, Evaluierungen, Fragebögen, Interviews etc. den Beweis zu erbringen, dass an Betreuungsqualität orientierte Pflege oft bessere Ergebnisse erzielt. „Dazu muss man verstehen, dass Pflege nicht eine Aneinanderreihung von Tätigkeiten IST, sondern im Moment des Tuns ENTSTEHT“, betont Hanna Mayer. Gerade dementielle Patient*innen brauchen beispielsweise einen anderen Zugang, weil sie sich dem System nicht anpassen. Wer es mit 08/15-Schema versucht, erntet Konflikte, Aggression, Resignation, Widerstand. Die zentrale Tätigkeit Körperpflege kann höchst anspruchsvoll sein, je nach Komplexität der Situation. Sie ist kein mechanischer Waschvorgang, sondern eröffnet je nach Bedarf einen Zugang zum Menschen, stimuliert, fördert Ressourcen oder bietet Zuwendung in Ausnahmesituationen.
Zwischen Bett und wissenschaftlicher Basis
Die Arbeit als Pflegeassistentin neben einem angefangenen Medizinstudium und eine eigene üble Krankenhauserfahrung gaben den Ausschlag für die Berufswahl. Mit der Idee „das muss besser gehen“ wählte Hanna Mayer das Wiener Rudolfinerhaus als Ausbildungsstätte. Elisabeth Seidl und Ilsemarie Walter, Pionierinnen der Pflegewissenschaft in Österreich, nennt sie ihre Mentorinnen. Diese nährten die Idee: Pflege kann mehr. Tatsächlich dürfen Nurses fast überall mehr als bei uns. Sehr bald unterrichtete sie in der Pflegeschule. 1990 begann sie neben der Tätigkeit als Pflegelehrerin Erziehungswissenschaften zu studieren. Eine gute methodische Schulung und die Abschlüsse halfen ihr die pflegewissenschaftliche Expertise in Österreich zu etablieren. Sie konnte dem Thema treu bleiben – abseits der anstrengenden Tätigkeit am Bett – und viele Auszubildende „anstecken“. Bereits 1910 wurde ein Lehrstuhl Krankenpflege am Teachers College der Columbia University in New York eingerichtet. Die Akademisierung des Berufs mit der Pflegewissenschaft ist wichtig, „weil eine Profession einen eigenständigen Wissenskorpus braucht.“ Sie arbeitete als freiberufliche Pflegewissenschafterin an verschiedenen Institutionen, bis sie 2007 als Professorin an die Uni Wien berufen wurde. 2012 bis 2016 war sie auch Vizedekanin für Lehre. „Ich habe an der Uni Wien die Pflegewissenschaft auf breiter Basis aufgebaut, aber dieses ‚Kind‘ ist erwachsen geworden, und ich wollte noch einmal etwas Neues starten.“ Halb zogen die Verantwortlichen sie an die Karl Landsteiner, halb sank sie hin. Da ihr Mann Wurzeln in der Kremser Katastralgemeinde Hollenburg hat, wohnt sie dort bereits einige Jahre.
Spitze, Tiefe und Rollenstudium
In Krems kann sie ein spitzeres Forschungsprofil aufbauen. Das Feld ist aber immer noch breit genug, wie ein Blick nur in die Publikationen 2022 zeigt: Urin-Kontinenz fördern, Delirium erkennen durch Angehörige, Selbstorganisation bei chronischen Krankheiten, Ernährung betagter Patient*innen im Spital, ein pflegegeleitetes Sekundärpräventionsprogramm für Menschen nach akutem Koronarsyndrom … die Klammer ist immer die Personenzentrierung und was es dafür braucht. „Wir entwickeln nicht die Pflege in Österreich neu. Es geht darum, die bestehenden Mechanismen nicht als Naturgesetz zu betrachten. Wir entwickeln Mosaiksteinchen und legen eines ans andere“, erklärt Hanna Mayer. Randomisierte, kontrollierte Wirkungsforschung funktioniert im komplexen Pflege-Setting nicht, aber Erkenntnisse der Pflegewissenschaft, getestet mit großer Methodenvielfalt für die und in der Praxis, produzieren letztlich Möglichkeiten.
Im Schauspiel ergründet sie die Tiefe der menschlichen Seele, „denn jeder Mensch trägt alles in sich und ich muss ein Verständnis für die Person finden, ob es eine Mörderin oder ein Mann, ein Waldgeist oder ein Opernstar ist“. Die Medea fehlt ihr noch, der Puck war sicher eine Lieblingsrolle. Beim Unterrichten hat ihr das zweite Talent enorm geholfen, da „bin ich ein Gefäß und transportiere mit meinem Talent Inhalte, mache Komplexes verständlich, kann es weitertragen.“ Ihre Lehre wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. Weil sie die Arbeit am Krankenbett vermisst, hat sie immer wieder Einsätze, wie zuletzt zwei Wochen in Nigeria, wo sie das ganze Repertoire abruft.
Pflege braucht Herz, Hand und Hirn
Weil händeringend Menschen für Pflegeberufe rekrutiert werden, stellt sich die Frage: kann das jede*r lernen, und was ist eine gute Motivation für den Beruf? Aus Studien wissen wir, dass der Fachkräftemangel u.a. entsteht, weil die Leute das, warum sie den Beruf gewählt haben, nicht tun können.
Für Hanna Mayer ist vieles lernbar, aber eine gewisse Eignung – wie in anderen Berufen – die Voraussetzung. Neben Wissen und Fertigkeiten müssen Haltung und Reflexionsfähigkeit in der Ausbildung mitentwickelt werden: „Ich brauche Freude daran, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten, muss kommunizieren können, auch wenn es nicht einfach ist, es braucht Eigenständigkeit, Interesse am Fachgebiet, Commitment zum Job – bitte keine verhinderten Mediziner*innen. Ich muss in der Lage sein, das Körperliche auszuhalten, die Balance von Nähe und Distanz und eigene Grenzen kennen, und mir über meine Werte und Überzeugungen klar sein.“
Astrid Kuffner