Was unterscheidet Mobbing von Hänseln, Ausgrenzen und Hauen?
Brigitte Gartner-Denk: Es gibt vier Kriterien für Mobbing im Kontext Schule unter Kindern und Jugendlichen. Ich beziehe mich hier auf Fachliteratur z.B. von Dan Olweus oder Mustafa Jannan. Mobbing ist eine Form von Gewalt. Es bedeutet ein aggressives Verhalten, das jemand anderem vorsätzlich Schaden zufügt. Es tritt über einen längeren Zeitraum gehäuft auf, in einer persönlichen Beziehung, die sich durch ein tatsächliches oder subjektiv wahrgenommenes Macht- bzw. Kräfte-Ungleichgewicht auszeichnet. Der Mensch oder die Gruppe, die gemobbt wird, fühlt sich wehrlos und hilflos. Die Konfliktlösung durch das Opfer ist also nicht möglich, und den Prozess bekommt niemand sonst in dieser Tragweite mit. Die Rolle der Erwachsenen ist entscheidend, ob sich Mobbingprozesse verfestigen oder reduzieren. Leider wird das Thema im schulischen Kontext oft sehr oberflächlich angegangen nach dem Motto: zwei Nachmittagsworkshops und die Schule wird mobbingfrei. Das halte ich für fahrlässig. Wenn Mobbing-Opfer sich an einen Erwachsenen wenden, werden sie von Eltern oder Lehrpersonen oft nicht ernst genommen. Dann wird rasch „ein offenes Gespräch“ gesucht. Das verschlimmert die Situation.
Was können Erwachsene tun, um hilfreich zu sein?
Gartner-Denk: Wilder Aktionismus ist das schlechteste. Als Lehrperson, der sich jemand anvertraut, muss ich mich bei aller Dringlichkeit der Situation mit anderen zusammenschließen, um das Geschehen zu reflektieren. Oft muss ein Netzwerk gebildet und gemeinsam erwogen werden: Was ist passiert, was kann getan werden und welche Fachleute können oder müssen hinzugezogen werden? Dazu gehören z.B. Beratungslehrer*innen, Klassenvorstand, Sozialarbeiter*innen, Schulpsycholog*innen, Eltern, Grätzelpolizist*innen. Ab 14 Jahren sind viele Mobbing-Handlungen strafrechtlich relevant – das muss vermittelt werden. Mobber*innen sind oft wenig empathisch. Man kommt ihnen nicht mit einem einfachen Gespräch bei. Für ein adäquates, sensibles Vorgehen braucht es Zeit, Wissen und Fachleute. Es gibt Prozesse und Methoden wie den „No Blaim Approach“, die funktionieren. Aber sie lassen sich nicht rezepthaft auf jede heikle Situation in gleicher Weise anwenden.
Wie kann der adäquate Umgang mit Mobbing geschult werden?
Gartner-Denk: Schulen sind ein Konstrukt, wo wenige Erwachsene vielen jungen Menschen gegenüberstehen. Mobbing zwischen Kindern und Jugendlichen passiert am häufigsten dann, wenn die Erwachsenen gerade nicht dabei sind (Pause, Gang, Schulhof, etc.). Wir brauchen mehr Aufklärung und Auseinandersetzung mit Gewaltprävention und Wissen über Gruppendynamik an den Standorten. Regelmäßige Supervision und Reflexion für Lehrkräfte sind ein längst notwendiger erster Schritt. Sie müssen sich ein Repertoire aufbauen, am besten anhand von Praxisfällen.
Also müssen sich die Erwachsenen Gedanken über ihre eigenen Reaktionen und Erfahrungen machen?
Gartner-Denk: Täglich stehen Lehrende in Klassen und sind mit Verhaltensweisen konfrontiert, denen sie hilflos gegenüberstehen. Sie sind im Erziehungskontext nicht darauf vorbereitet, dass jemand sich nichts von ihnen sagen lässt. Wir müssen beginnen, Erwachsene zu begleiten, damit sie Kinder und Jugendliche gut begleiten können. Wir vermitteln in einem Hochschul-Lehrgang an der KPH das Konzept der Neuen Autorität von Haim Omer als Präventions- und Interventionskonzept. Hier geht es um die Reflexion des eigenen Autoritätsverständnisses. Junge Menschen brauchen Halt, Orientierung und Beziehung. Wir brauchen Autorität, aber keine autoritären Persönlichkeiten mehr.
Wir sprechen nach zwei Jahren Pandemie davon, dass Gräben aufgehen und gesellschaftliche Spaltung sich vertieft. Wird Mobbing mehr?
Gartner-Denk: Formen von schulischer Gewalt, ob physisch, psychisch und verbal wird es immer geben. Social Media bieten heute größere Möglichkeiten der Verbreitung. Der Kinder- und Jugendpsychiater Paulus Hochgatterer und andere sagen, dass Gewalt unter Kindern und Jugendlichen nicht steigt, aber wenn Formen von Gewalt angewandt werden, sind sie brutaler als vor 50 Jahren.
Astrid Kuffner