ask – art & science krems: In einigen Fotoserien bilden Sie verlassene Gebäude aus der Sowjetzeit in und rund um Kyiv ab und verwendeten dafür eine Zenith Kamera. Wie kam es dazu?
Natalka Diachenko: Ich begann damit 2015 als Teil der Künstler*inneninitiative DE NE DE, die sowjetisches Erbe in der Ukraine erforscht. Die Sowjetunion bestand nicht nur aus dem heutigen Russland, sondern aus weiteren 14 Ländern. Das ukrainische Kulturerbe dieser Zeit unterscheidet sich vom russischen. Es gibt Architektur, Mosaike, Denkmäler, die ganz eigenständig sind. Das war der Ausgangspunkt unserer Recherche. Die Zenith-Kamera war ein verbreitetes Modell in der Sowjetunion, und ich habe mit übrig gebliebenen Schwarz-Weiß-Filmen der Marke Svema, die damals entstandene Architektur im Heute fotografiert. Dieser Zeitsprung in den Bildern hat mich interessiert.
ask – art & science krems: Natalka Diachenko spricht Kulturerbe als Teil der ukrainischen Identität an. Welchen Anteil haben Architektur, Museen und Denkmäler daran, nationale Identität zu formen?
Anna Maria Kaiser: In bewaffneten Konflikten gehört das Kulturerbe – neben Menschen – zu den ersten Zielen, denn es ist integraler Teil der Identität der Bevölkerung. Wenn es zerstört wird, wird Geschichte umgeschrieben. Es entsteht der Eindruck, dass eine bestimmte Bevölkerung nie hier war. Auf der Krim, so fand man heraus, wurde Kulturgut zerstört und stattdessen errichtete Russland neue Denkmäler. Damit sagt man: Das hier ist russisches Kulturerbe. Man verletzt Menschen damit, dass man ihre Kulturgeschichte zerstört. Das ist eine Waffe.
ask – art & science krems: Können Sie uns mehr erzählen über ukrainische Architektur oder Kunst in der Sowjetzeit?
Diachenko: Es gab zum Beispiel ein besonderes Material für Mosaike, das nur hier produziert wurde, in Fabriken in Kyiv und Lysychansk. Es wurde eine besondere Art des Planens entwickelt, von einem Design-Institut, dem KyivZNIIEP. Und es gab eine Reihe von Künstler*innen wie Alla Gorska, Ada Rybachuk und Volodymyr Malnychenko, die einen eigenen Stil entwickelten.
ask – art & science krems: Nach welchen Kriterien wird eigentlich definiert, was schützenswert ist und was nicht?
Kaiser: Aus rechtlicher Sicht entscheidet das jeder Staat selbst. Man kann sich das Ganze wie eine Pyramide vorstellen. An der Basis sind Objekte, die nicht geschützt sind. Diese können für die Leute vor Ort sehr wohl wichtig sein: die Kirche, in der sie geheiratet haben oder wo ihre Kinder getauft wurden. Doch sie werden auf nationaler Ebene nicht als bedeutend genug erachtet, um sie unter Schutz zu stellen. Auf der nächsten Ebene stehen nationale Denkmäler, die geschützt sind. Der Denkmalschutz ist gültig in Friedenszeiten. Im humanitären Völkerrecht gibt es die Genfer Konvention, die beispielsweise den Umgang mit Kriegsgefangenen regelt, oder auch die Haager Konvention aus 1954, die als internationales Abkommen den Schutz von Kulturgut in bewaffneten Konflikten festlegt, als Schutz, der auch im Krieg gilt. In Österreich gibt es 38.803 unbewegliche Objekte, die unter Denkmalschutz stehen und 135 Objekte, die im Kriegsfall geschützt sind, markiert mit einem weiß-blauen Schild. Eine Liste dieser Objekte muss ein Land, sobald dort Krieg ausbricht, zumindest der UNESCO sowie den beteiligten Parteien mitteilen. Diese Orte dürfen nicht vom Militär benutzt werden. Soldat*innen dürfen beispielsweise nicht eine geschützte Kirche nutzen. Denn sobald das der Fall ist, würde die Kirche zum legitimen militärischen Ziel.
Diachenko: Die Konvention wird nur leider nicht eingehalten. Die Direktorin des Melitopol Museums für Lokalgeschichte wurde von russischen Soldaten entführt, um ihr den Aufbewahrungsort des Skythengolds abzupressen. Es wurde gestohlen ebenso wie Teile der Sammlung des Museums in Mariupol, Werke von Archip Iwanowitsch Kuindschi und Iwan Konstantinowitsch Aiwasowski. In der Theorie gibt es Kulturgutschutz – und im Kriegsfall ist alles anders.
Kaiser: Wir wissen, dass es nicht immer funktioniert. Aber die bewusste Zerstörung von Kulturgut ist ein Kriegsverbrechen ebenso wie der Kunstraub.
Diachenko: Aber wie schützt die internationale Gemeinschaft kulturelles Erbe?
Kaiser: Sobald ein Bombardement beginnt, rückt das auf die diplomatische Ebene. Institutionen wie UNESCO oder OSZE können gemeinsam mit Partnern in der Ukraine Museen unterstützen. Sie können aber nicht einfach ohne Zustimmung der Ukraine Werke aus Museen holen. Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem Kriegsvölkerrecht und der Zivilgesellschaft, die helfen will. Da muss man Kanäle etablieren, über Verbände wie das International Council of Museums. Das Heritage Monitoring Lab am Natural Museum in Virginia überwacht 26.000 Kulturerbestätten in der Ukraine aus der Ferne. Wenn auf Satellitenbildern erkennbar wird, dass das Dach eines Museums eingebrochen ist, können Partnerinstitutionen alarmiert werden, die dann Werke evakuieren.
ask – art & science krems: Werden Objekte von ihren Landsleuten in Sicherheit gebracht?
Diachenko: Die Leute im Museum müssen beim Ministerium anfragen, ob sie ein Objekt von A nach B bewegen dürfen. Das ist ein langer bürokratischer Prozess.
ask – art & science krems: Was hören Sie über das Ausmaß der Zerstörung von Kulturschätzen und die Bemühungen, diese zu retten?
Kaiser: Ich weiß, dass Fachleute für Kulturgüterschutz innerhalb und außerhalb der Ukraine zusammenarbeiten. Es gibt viele Institutionen, die Platz in ihren Depots anbieten, damit Objekte nicht während der Lagerung bis zum Ende der Kampfhandlungen kaputtgehen. Die Smithsonian Cultural Rescue Initiative, eine schnelle Eingreiftruppe für Kulturgüterschutz, schickt Verpackungsmaterial und Video-Anleitungen. So können aus der Ferne Menschen eingeschult werden, die vielleicht in erster Linie nicht mit dem Thema befasst sind.
Diachenko: In manchen Regionen ist das noch möglich, nicht aber in den besetzten Gebieten. Gerade in Mariupol, wo es sehr viele tolle Mosaike gibt, können wir die Lage nicht einschätzen.
ask – art & science krems: Es gibt sieben UNESCO World Heritage Sites in der Ukraine, die vielleicht über die Landesgrenzen hinaus bekannt sind. Wer ist verantwortlich für ihren Schutz?
Kaiser: Die Welterbestätten haben keinen gesetzlichen Schutz, wenn sie nicht durch nationales Recht geschützt sind. Weltkulturerbe ist ein Label, für das man sich bewirbt: die Auszeichnung als Besonderheit mit universellem Wert. Der Status ist mit Auflagen verknüpft, die eingehalten werden müssen. Die gezielte Zerstörung von Welterbestätten würde jedenfalls international in die Schlagzeilen kommen, wie es auch bei der antiken Stadt Palmyra (Syrien) oder den Buddha-Statuen von Bamiyan (Afghanistan) der Fall war. Wenn man gezielt die nationale Identität angreifen möchte, nehmen Kriegsparteien eher Objekte ohne Schutzstatus ins Visier.
ask – art & science krems: Die Zerstörung von Kulturgütern ist ein Kriegsverbrechen. Wie kann man das beweisen?
Kaiser: Ich bin mir sicher, dass diverse Institutionen laufend Bilder und Beweise sammeln, um Zerstörungen zu dokumentieren. Im militärischen Bereich ist die Dokumentation ohnehin gegeben. Es gibt Hierarchien, die einzuhalten sind, und Entscheidungen, die abgezeichnet werden. Wenn diese Unterlagen an den internationalen Strafgerichtshof nach den Haag kommen, lässt sich Verantwortung gut festmachen.
Diachenko: Meine Fotos waren der erste Schritt für die umfassender geplante Erforschung und Dokumentation der 1960er- bis 1990er-Jahre. Andere Mitglieder von DE NE DE sollten mit Museen und Bibliotheken kooperieren, Gespräche führen und Texte schreiben, um Wissen über diese weitgehend unbekannte Epoche der ukrainischen Geschichte aufzubauen. In der neuen Realität bekommt meine Rolle eine neue Bedeutung: Dokumentation nicht zur Erforschung, sondern zur Bewahrung.
ask – art & science krems: Wie dokumentiert man unbewegliche Kulturgüter fachgerecht, um sie wieder aufzubauen?
Kaiser: Da gibt es im 21. Jahrhundert viele Daten und Quellen, die man benutzen könnte. Mein Lieblingsbeispiel für Wiederaufbau ist die Innenstadt von Warschau, die im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört wurde. Sie wurde basierend auf alten Vermessungsdaten rekonstruiert. Die Fassaden wurden anhand von Gemälden von Canaletto aus dem Ende des 18. Jahrhunderts wieder erstellt.
Diachenko: Manches kulturelle Erbe ist einfach nicht rekonstruierbar, in seiner Einmaligkeit von Form, Material und Bedeutung. Es ist verloren.
Kaiser: Auch die Altstadt von Warschau ist nicht mehr da. Sie ist wiederhergestellt. Der Campanile in Venedig ist vor mehr als hundert Jahren einfach eingestürzt. Er wurde wieder aufgebaut und tut so, als ob. Es ist immer die Frage: Machen wir es neu und leben damit? Oder bauen wir es wieder auf, wissend, dass es nicht dasselbe ist? Die Altstadt von Warschau ist übrigens Weltkulturerbe – wegen des minutiösen Wiederaufbaus.
Diachenko: Was jedenfalls zerstört ist, sind die Erinnerungen rund um die Objekte. Bei einem Wiederaufbau muss diese Ebene mitbehandelt werden. Ein kritischer Kommentar ist wichtig, denn die Geschichte der Ukraine ist eine der vielfachen Aneignung. Wer bestimmt, was wieder aufgebaut wird? Wahrscheinlich brauchen wir dafür eine eigene Institution mit Fachleuten.
Kaiser: Ich kann eine Leerstelle belassen mit einer Erinnerungstafel. In ein paar Jahrzehnten wissen Menschen wohl nicht mehr, was da einmal war. Wenn ich etwas wieder aufbaue, lade ich es auch mit seiner Geschichte auf. So wird nicht akzeptiert, dass 2022 den Menschen ein Objekt genommen wurde.
Diachenko: Momentan werden permanent Menschenleben und Denkmäler zerstört. Jetzt ist die Zeit zu retten und bewahren, was noch geht. Wir wissen nicht, wie lange noch und können nur versuchen, uns eine Zukunft mit Wiederaufbau vorzustellen.