„Es ist barbarisch!“

Medizinethiker Giovanni Rubeis und Künstlerin und Philosophin Elisabeth von Samsonow über Gesundheit in pandemischen Zeiten, Grenzen der KI und die Kraft der Kunst.
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ask – art & science krems: Die Weltgesundheitsorganisation definiert Gesundheit als „einen Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen“. Sind in Österreich viele Menschen in diesem Sinn gesund?

Giovanni Rubeis: Diese WHO-Definition wurde 1946 verfasst, nach NS-Verbrechen im Namen der medizinischen Forschung. Damals war klar, dass eine rein biomedizinische Formulierung dem Menschen nicht angemessen ist. Die Definition entspricht eher einer Idealvorstellung.

Elisabeth von Samsonow: Diese Formulierung ist vielleicht gewählt worden, weil Gesundheit nichts Statisches ist. Die zugehörige Wissenschaft, einst als Heilkunst bezeichnet, wendet auf der einen Seite Kataloge von Krankheiten, Typisierungen und Standardisierungen an, auf der anderen Seite hat sie es mit hochgradig individualisierten Fällen zu tun.

Rubeis: Die Biomedizin wendet naturwissenschaftlich begründete Methoden an. Sie sammelt und beschreibt Fakten. Sie standardisiert, basierend auf großen Datenmengen. Deswegen sind wir geneigt zu glauben, dass die Grenzziehung zwischen dem Normalen und dem Pathologischen objektiv ist. Aber Fakten sind stets in eine Gesellschaft mit Wertvorstellungen eingebettet. Homosexualität wurde bis Anfang der 1990er-Jahre als Krankheit definiert. Dass das nicht mehr so ist, hat mit veränderten sozialen Haltungen zu tun.

Samsonow: Während der Pandemie wurde die Medizin idealisiert. Wer Kritik übte, disqualifizierte sich. Nun ist die Frage: Wie wird der statistische Fall Mensch weiter bewertet und therapiert? Kann er unter den wachsenden wirtschaftlichen Zwängen, denen die Medizin unterworfen wird, zu der Gesundheit finden, die ihm zugestanden werden soll?

Rubeis: Die Digitalisierung wird in der Medizin als Heilsversprechen gehandelt. Mit der App erhebe ich individuelle Gesundheitsdaten, die von KI-Anwendungen ausgewertet werden. So soll die Therapie auf meinen Bedarf und meine Ressourcen zugeschnitten werden. Aber welche Daten werden als relevant anerkannt und einbezogen? Wie sind die Apparate und technischen Formate gebaut, die diese erheben und prozessieren? Da stehen viele normative Entscheidungen dahinter.

Samsonow: Die Medizin bewegt sich auf ideologischem Terrain, in dem Maß wie sich unsere Gesellschaft von der Disziplinar- zur Überwachungsgesellschaft entwickelt. Von der Aufforderung, nicht soviel Schweinebraten zu essen, gelangt man dazu, den Menschen zu vermitteln, dass sie ihre Essgewohnheiten selbst überwachen. Gleichzeitig müssen sie akzeptieren, dass die Tools in großem Stil ausgelesen werden – eine optimierte physische Self-Care mit Strafpunkten fürs Saufen, Rauchen und Sitzen. In die AI-Entwicklung fließt viel Kapital. AI wird als beinahe göttliches Wesen gesehen, das sich selbst hervorbringt. Das ist tricky, denn wir wünschen uns tatsächlich Überwachung. Das kommt daher, dass Mütter auf uns, als wir Kinder waren, aufgepasst haben. Doch die technische Mutter ist böse. Sie ist ohne Empathie.

„Im Dialog“ heißt sie ask-Gesprächsreihe im museumkrems, in der sich Wissenschaft und Kunst austauschen. Medizinethiker Giovanni Rubeis (Bild) diskutiert mit der Künstlerin und Philosophin Elisabeth von Samsonow.

ask – art & science krems: Wird nicht gleichzeitig Eigenständigkeit versprochen, wenn man mit technischen Tools das Gesundbleiben oder den Heilungsprozess unterstützt?

Rubeis: Oft wird Überwachung als individuelle Freiheit verkauft. Das ist Ausdruck der gesellschaftlichen Tendenz, die Verantwortung vom Kollektiv aufs Individuum zu verschieben. Wer Herz-Kreislauf-Probleme hat, bekommt gesagt: Du bist übergewichtig, iss gesünder und mach mehr Sport. Tatsächlich beeinflussen verhaltensbezogene Faktoren die Gesundheit. Allerdings werden diese von bestimmten sozialen Voraussetzungen geprägt: Es gibt eine Korrelation zwischen gesundheitsschädlichem Verhalten und Lebensbedingungen mit erschwertem Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung oder guten Lebensmitteln.

ask – art & science krems: Auf welchen Instanzen fußt die ethische Beurteilung von Fragen zu Gesundheit, Überwachung, Pflege, Krankheit oder Tod in Österreich, auf deren Basis beispielsweise eine App zugelassen wird?

Rubeis: Es gibt zunächst den legalen Rahmen. Da braucht es Evidenz, dass ein Medikament, ein Verfahren oder eine App wirkt. Wir müssen zudem wissen: Was ist erlaubt, und was erstattet die Krankenkasse? Darüber hinaus muss eine ethische Reflexion erfolgen. Aus Untersuchungen weiß ich, dass Hausärztinnen und -ärzte digitalen Technologien skeptisch gegenüberstehen: Menschen sind mehr als Körpermaschinen. Woher kommt die Bestrebung, sie in Datenpakete zu zerlegen? Wohl aus einem neoliberalen Mindset, das alles quantifizieren und zu Ware machen will.

Samsonow: Man muss das breiter diskutieren, weil der gesamte Carebereich sonst Gefahr läuft, zu einer Fußnote der gesellschaftlichen Entwicklung zu werden. Wie kann es sein, dass Krankenhäuser und Geburtenstationen schließen, weil sie sich nicht rechnen? Wenn man den Staat als Sorgestaat begreift, müsste er Geld ganz anders verteilen. Es sollte zum Beispiel nicht sein dürfen, dass meine Großmutter von einem armen Mädchen aus einem östlichen Nachbarland gepflegt wird, weil es dafür einfach nicht mehr Geld gibt.

Elisabeth von Samsonov versteht sich als „radikale Matriarchatspolitikern“. Im Patriarchat befänden sich die Schwächsten am Rand und die Stärksten in der Mitte, im Matriarchat gehe es um die Sorge für andere.

ask – art & science krems: Der Mensch als soziales Wesen existiert nur in Verbindung mit anderen. Wie ist es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt nach zwei Jahren Pandemie bestellt?

Rubeis: Eine gesellschaftliche Werthaltung drückt sich darin aus, wie man mit Berufsgruppen umgeht. Wenn es der Gesellschaft gut gehen soll, braucht es die Carearbeit. Diese federt das ab, was wir nicht planen können. Ohne unsichtbare Carearbeit im Hintergrund könnte im Vordergrund nichts stattfinden. Doch wir ziehen eine Grenze zwischen dem Öffentlichen, der Arbeitswelt – und dem Privaten. Das ist auch gendercodiert: Fürsorge und Nestwärme gelten als weiblich, Durchsetzungsvermögen und rationales Denken als männlich.

ask – art & science krems: Hat sich diese Grenzziehung in der Pandemie verstärkt?

Samsonow: Sie ist schon vorher viel zu lange zementiert worden. Nun wurden zwar politische Maßnahmen ergriffen, um die Leistung der Frauen anzuerkennen. Aber das ändert nichts an den Strukturen, die alle Bereiche durchdringen. Ich verstehe mich als radikale Matriarchatspolitikerin. Das Matriarchat ist die einzige mir bekannte Gesellschaftsform, die aus dem Geschlecht keine Hierarchie ableitet: Alle haben denselben Abstand zur Mutter. Es gibt in dieser Vorstellung ein „gutes Objekt“: Das muss nicht die leibliche Mutter sein, sondern ist eine politische Codierung, die für mütterliche Werte steht. Während im Patriarchat Prestigegewinn über Akkumulation erfolgt, geschieht dies im Matriarchat mittels Distribution – also durch Sorge für andere. Im Patriarchat befinden sich die Schwächsten am Rand und die Stärksten in der Mitte. So ist es bei uns. Dieses politische Modell muss beendet werden. Es ist barbarisch!

Rubeis: Wir diskutieren vieles noch in den Kategorien dieser patriarchalischen Gesellschaft. Seit 40 Jahren erleben wir eine Kolonialisierung des gesamten Gesellschaftssystems durch Ökonomisierung. Auch in der Medizin. Wenn ein Krankenhaus aufgrund mangelnder Rentabilität geschlossen wird, fragen wir, warum es nicht wirtschaftlich zu führen war – anstatt die Bemessungsgrundlage zu hinterfragen. Da gehen wir diesen Argumentationsmustern selbst auf den Leim.

Wie Solidarität und Neoliberalismus einander beeinflussen, erklärt Giovanni Rubeis.

ask – art & science krems: Liegt das daran, dass eine neoliberale Haltung die Medizin erfasst hat?

Rubeis: Vieles ist verwoben. Es gibt Wechselwirkungen, die nicht unbedingt kausal sind. Die Gesellschaft produziert einen Diskurs, der derzeit aber völlig dysfunktional ist. Vieles wird auf bestimmte Gruppen abgeschoben, die dann diskriminiert werden.

Samsonow: Der Ton hat sich extrem verschärft. Ich würde mich schämen als Politikerin, aber auch als Intellektuelle, wenn ich andere öffentlich bezichtige, etwa „Schwurbler“ zu sein. Der Medientheoretiker Peter Weibel hat ganz richtig gesagt: Den meisten, die für oder gegen beispielsweise die Impfpflicht argumentieren, liegen dieselben Informationen vor – und diese kommen nicht direkt aus dem Labor, sondern aus den Medien. Eine gesellschaftliche Oberfläche produziert immer dialektische Spannung. Das nennt man Meinungsbildung, die öffentliche Meinung wird von sich aus nie homogen sein. Aber die Art, wie jetzt diskutiert wird: Die ist unter aller Kanone.

Rubeis: Oft sagen Politiker*innen, die Menschen verweigerten hier die Solidarität. Unter dieser Voraussetzung müssten diese Menschen in unserer Gesellschaft konsequenterweise ja als Musterschülerinnen und -schüler gelten! Schließlich sagt uns die neoliberale Gesinnung seit Jahrzehnten, wir brauchten keine Solidarität.

Samsonow: Das ist eine gute Analyse. Da wird noch einiges an Aufarbeitung nötig sein.  

ask – art & science krems: Welche Rolle kann in diesem gesellschaftlichen Prozess die Kunst einnehmen?

Samsonow: Na, die Kunst kann ganz viel! Gerade in Bezug darauf, welche Rolle die Wissenschaft hat. Repräsentiert diese das Gesetz, das Maß aller Dinge? Dann dürften wir nur noch Expertenregierungen haben. Die Kunst zeigt, dass es sehr viele Bereiche gibt, die mit der komplexen Beschaffenheit von Menschen zu tun haben. Sie bildet eine Art Komplement, eine Ergänzung zur Wissenschaft, und hindert diese als Regulativ daran, autoritär oder totalitär zu werden. Die Kunst kann aber auch progressiv sein, Schwellen überschreiten, Entwürfe erdenken für Hinsichten, die wissenschaftlich noch nicht approved sind. Man muss auch zu erkennen versuchen, was schwer zu erkennen ist. Theoretische Physiker erklären mir, sie hätten erst 98 Prozent des Weltalls erkannt. Wenn ich als Philosophin so etwas sagen würde, würde ich als Dilettantin verdächtig.

Elisabeth von Samsonow sieht Kunst als Ergänzung zur Wissenschaft und als Regulativ, nicht autoritär und totalitär zu werden.

ask – art & science krems: Kunst und Wissenschaft sind also als Dualität zu begreifen, oder?

Samsonow: Zweifellos. Wenn wir an der Akademie der bildenden Künste in Wien ein Doktorat machen, werfen uns jene, die aus der klassischen Wissenschaft kommen, Unwissenschaftlichkeit vor. Aber da ist eine Bewegung im Gange. Wir müssen die Methodologie, die Praxis offenlegen. Die Kunst ist, wie der Philosoph und Theoretiker Bazon Brock sagte, nicht dazu da, um die Zeit zwischen zwei Kriegen zu verschönern. Sondern um auszudrücken, dass die Menschen aus unterschiedlichen facultates, also Möglichkeiten, Fähigkeiten, Talenten bestehen.

Rubeis: Man darf nicht die Wissenschaft verwechseln mit einer Geisteshaltung, die das Menschliche auf den wissenschaftlichen Aspekt reduziert. Das ist ein Reduktionismus, den oft Leute aus ganz anderen Bereichen vertreten. Die Wissenschaft gibt uns einen Einblick in die facultates des Menschen, aber keinen exklusiven. Es gibt viel mehr Zugänge zum Menschen – diese können Kunst und Philosophie öffnen. Die Wissenschaft fragt: Was ist da? Doch wenn wir von diesem Punkt aus nicht weitergehen, bleiben wir in der Technokratie stecken. Die Kunst kann uns Perspektiven auf Neues, auf Visionen aufmachen: Was könnte sein? Diese Chance bietet sie uns.

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Zur Person

Elisabeth von Samsonow ist bildende Künstlerin und Philosophin. Sie arbeitet an der Wiener Akademie der bildenden Künste, wo sie eine Universitätsprofessur für Philosophie und Historische Anthropologie hat. Seit 2018 leitete sie mit ihrer Kollegin Felicitas Thun-Hohenstein das künstlerisch-wissenschaftliche The Dissident Goddesses’ Network. Die aktuelle Ausstellung „Die Erde lesen“ in der Landesgalerie Niederösterreich gibt Einblicke in dieses Projekt und zeigt auch Samsonows Kunst (bis 1. Mai 2022).

Der Medizinethiker Giovanni Rubeis leitet den Fachbereich Biomedizinische Ethik und Ethik des Gesundheitswesens am Department Allgemeine Gesundheitsstudien der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften. Der studierte Philosoph beschäftigt sich mit ethischen Fragen der Digitalisierung in der Medizin, der Pflege, der Pränatal- und Reproduktionsmedizin und mit Mental Health Ethics.  Er ist auch Mitbegründer und Koordinator der Arbeitsgruppe „Digitalisierung und Gesundheit“ der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM). 

Zum Ort

Die Gespräche zu „Im Dialog“ finden im museumkrems statt, das neben seiner ständigen Präsentation über Geschichte, Kunst und Kultur in Krems auch Sonderausstellungen aus eigenen Beständen und in Kooperation mit Künstler*innen und anderen Ausstellungshäusern zeigt.

Fotos: Stadt Krems / Barbara Elser
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