Hundert Schläge mit einem Holzstab auf die Finger muss der Schüler erdulden. Einmal zerbricht das Folterwerkzeug. Die Lehrerin holt Ersatz aus der Nachbarklasse und führt ihre grausame Bestrafungsaktion fort. Das Vergehen des Kindes: Es hat im Unterricht gesprochen. So erinnert sich Mitschülerin Luna Al-Mousli, heute Schriftstellerin, Grafikerin und Illustratorin, an die furchtbare Begebenheit in ihrem 2015 erschienenem, mittlerweile vergriffenem Buch „Eine Träne. Ein Lächeln. Meine Kindheit in Damaskus“.
Verstörendes Nebeneinander
Eine der Stärken des Textes liegt in einem fast verstörenden Nebeneinander von Szenen unglaublicher Härte und Brutalität einerseits und solchen voller Poesie, Schönheit und Liebe andererseits. Wenn die Autorin von der Amme Samiha und den von ihr geflochtenen Zöpfe berichtet, wenn sie sich erinnert an ihre Tante Maysa, die sie aufgrund ihrer Kommunikationsfreude auch das „syrische Facebook“ nennt, und wenn sie von duftendem Lavendel und wohlriechender Minze schreibt, dann setzt sie den schlimmen Lebensumständen in der Diktatur Syriens, in der sie aufwuchs, die Poesie des Alltags entgegen. „Der Alltag mit seinen scheinbar banalen Ereignissen kann extrem schön sein“, sagt Luna Al-Mousli, 1990 in Melk geboren, im Gespräch mit ask – art & science krems. Beim Festival Imago Dei wird sie Teil des Abends „Syria alive“ sein, bei dem Literatur und Musik einander abwechseln.
Mutter und Tochter
Luna Al-Mousli – ihr Großvater studierte in Österreich, ihre Mutter verbrachte hier ihre Kindheit und Jugend – wuchs in Damaskus auf. Als Jugendliche kehrte sie in das Land ihrer Geburt zurück, wo sie später an der Wiener Universität für Angewandte Kunst Grafikdesign studierte. Als Diplomarbeit verfasste sie „Eine Träne. Ein Lächeln“ und gestaltete das Buch auf besondere Weise: Texte und Fotos vereinen sich in dem sorgfältig und aufwändig produzierten bibliophilen Werk. Die zweite Auflage (Al-Mousli selbst nennt die beiden Versionen „Mutter“ und „Tochter“) illustrierte sie mit feinen, sparsamen Zeichnungen. Al-Mousli schrieb „Eine Träne. Ein Lächeln“ auf Arabisch und auf Deutsch. Wenn man den umkämpften und viel bemühten Begriff der „Identität“ verwenden möchte, dann ist das kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als auch: „Ich kann mir von hier und dort die schönen Seiten rausnehmen und sie ausleben. Beides gehört zu mir“, schreibt das Multitalent.
„Klatschen reicht nicht“
Mit „Eine Träne. Ein Lächeln“ wurde sie rasch erfolgreich und bekannt, „ein kleines Wunder“ nannte die Frankfurter Rundschau das Buch sogar – und man kann es getrost als Gesamtkunstwerk bezeichnen. Buchgestaltung ist Al-Mousli wichtig: „Bücher, die nicht schön sind, lese ich selbst nicht gern“, erzählt sie. Das merkt man auch ihren jüngeren Publikationen an, zuletzt einer Kooperation mit der Illustratorin Clara Berlinski, einer Freundin seit Studientagen. Auf dem Cover des Buchs ragen oben klatschende Hände ins Bild, unten fällt eine Frau ins Nichts. Dazwischen der Titel: „Klatschen reicht nicht. Systemheld*innen im Porträt“. Die Autorin hat dafür mit jenen gesprochen, die in der Pandemie das Land am Laufen halten: Sozialarbeiter*innen, Lagerarbeiter, Pädagog*innen. Wie war es, statt eines poetischen Buchs eines zu schreiben, das einen dezidierten Aufruf in sich trägt? Das die harte Arbeit der Systemheld*innen beschreibt und dazu auffordert, sie endlich adäquat zu entlohnen und ihre Arbeitsumstände zu bessern? Luna Al-Mousli: „Alle Bücher, die ich mache, haben einen Grund. Es gibt etwas, das mich quält, und darüber möchte ich erzählen.“ Gerade bei einem so schweren Thema sei es wichtig, „das Buch so zu gestalten, dass man es gern zur Hand nimmt.“ Politiker*innen müssten es lesen – oder? „Ja, und sie sollen sich schämen, dass sie diese Zustände zulassen.“
Tiefe und Verläufe
In ihrem Beruf als Grafikdesignerin arbeitete Al-Mousli trotz ihrer literarischen Karriere weiter. Auch für das Festival Imago Dei, für das sie gemeinsam mit Clara Berlinski ein Grafikdesign entwickelt hat, bei dem Farbverläufe Formen bilden und gewitzte Typografien über Folder und Plakate springen. Orientiert haben sich die beiden Designerinnen an den Formen der Kremser Minoritenkirche, wo das Festival stattfindet. Al-Mousli: „Damit erzeugen wir Tiefe, unterschiedliche Ebenen, die auch im Festivalprogramm zu finden sind.“ Ebenso soll „das Bewegliche dargestellt werden: Unser Design ist ständig in Bewegung, schaut auf verschiedenen Drucksorten jeweils anders aus.“ Zum Festivalmotto „Zwischenwelten“, über das Intendantin Nadya Kajali erst kürzlich mit ask – art & science krems sprach, passt das perfekt. Und: Ständig in Bewegung – das ist auch Luna Al-Mousli, diese aufgeweckte und reflektierte Künstlerin, selbst.