Plötzlich prominent

Der klinische Epidemiologe Gerald Gartlehner möchte möglichst viele Perspektiven auf das „Konstrukt Pandemie“ einnehmen und sehen.
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Gerald Gartlehner ist einer von zwei Hand voll Wissenschaftler*innen, den die Corona-Pandemie abrupt ins Scheinwerferlicht gerückt hat. Das ist nicht nur angenehm, wie der klinische Epidemiologe, Departmentleiter an der Universität für Weiterbildung Krems und Leiter der Cochrane-Repräsentanz in Österreich im Gespräch mit ask – art & science krems erläutert: „Meine Frau lässt mich samstags nicht aus dem Haus gehen.“ Denn da nimmt seit Monaten eine Mischung von Ideologiegetriebenen, Verschwörungsverblendeten und Naturbelassenen ihr demokratisches Recht in Anspruch – und die Wiener Innenstadt in Geiselhaft.

Die Epidemiologie beschäftigt sich mit der Entstehung, Verbreitung, Bekämpfung und den sozialen Folgen von Massenerkrankungen und Zivilisationsschäden. Sie befasst sich (unter Einsatz von Statistik) mit der Häufigkeit und Verteilung von (übertragbaren) Krankheiten in der Bevölkerung, untersucht Risikofaktoren, Ursachen, Verlauf und Folgen, beurteilt diagnostische Verfahren und Prävention. Mit Seuchenkunde im Feld hat der 52-Jährige jedoch nichts zu tun. Der Wiener ist ausgebildeter Mediziner und klinischer Epidemiologe, die evidenzbasierte Medizin (EBM) bezeichnet er als Heimat. In den Corona-Sog geriet er im Jänner 2020 durch ein von der WHO beauftragtes systematisches Review, ob Quarantäne ein hilfreiches Mittel wäre, die neue Krankheit aus China einzudämmen. Die klinische Epidemiologie befasst sich mit der Aussagekraft und Gültigkeit von klinischen Studien und Daten. Aus der Zusammenschau wird versucht, wissenschaftliche Evidenz abzuleiten.

Gerald Gartlehner zu Gast bei Armin Wolf in der ZIB2 am 4. Jänner.

Za wos brauch‘ ma des?

Die Wandlung zum „Auf-die Finger-Schauer“ erfolgte im Turnus Mitte der 1990er-Jahre. Viele Nachtdienste, 100 Stunden-Woche und das Wort von Primaria oder Oberarzt war Gesetz – so weit, so normal. Eine Behandlung sollte auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Jede*r glaubt im Spital nach dem letzten Stand der Wissenschaft behandelt zu werden. „Beim häufigen Wechsel zwischen Spitälern und Abteilungen fiel mir auf, dass dieselben Erkrankungen von Ort zu Ort unterschiedlich behandelt werden.“ Zu der Zeit verbreiteten sich EBM-Ansätze von den USA und England aus. Das war einigermaßen revolutionär, weil es über dem stand, was individuelle Ärzt*innen bestimmten. Er bewarb sich um einen Studienplatz für Public Health an der University of North Carolina at Chapel Hill. Ein Stipendium wurde ihm jedoch im Wissenschaftsministerium verweigert mit den Worten: „Das brauchen wir in Österreich nicht. Wir haben das beste Gesundheitssystem der Welt.“

Nach sieben Jahren in den USA kehrte er 2008 für eine Stiftungsprofessur des Niederösterreichischen Gesundheits- und Sozialfonds an der Universität für Weiterbildung Krems nach Österreich zurück und arbeitet seither daran EBM in Österreich zu etablieren. Seit 2010 leitet er zudem die Österreich-Repräsentanz der internationalen NGO Cochrane. Deren Ziel: Gesundheitsinformation und Studien ohne Interessenkonflikt zusammenfassen und Entscheidungs-träger*innen und Patient*innen zur Verfügung stellen. Ob eine praktizierte Prävention oder Behandlung nämlich mehr nutzt als schadet, ist nur mit Forschung, die von der medizinischen Industrie bezahlt wird, nicht zu sagen. Für Zusammenschau und Objektivität braucht es „ein geschultes methodisches Auge. Da kommt oft etwas anderes raus, als in den Werbebroschüren“. Auf die Plattform medizin-transparent.at ist er ebenfalls stolz. Hier beantworten Wissenschaftler*innen und Journalist*innen nach dem EBM-Check verständlich die Fragen von Bürger*innen: „Wir sehen hier, wie manipuliert Menschen durch Werbung werden. Die Gesundheitskompetenz ist in Österreich schlecht ausgebildet. Wir wollen sie stärken und alle Fragen ernst nehmen.“ Teilzeit arbeitet der highly cited researcher auch für das Research Triangle Institute und ist immer wieder in den USA. Ist dort alles besser? Nein! „Wir lernen nicht nur von den USA, sondern arbeiten auf Augenhöhe.“

Fünf Fragen

Haben Sie ein Problem mit Autoritäten, Herr Gartlehner?

„Nein, wenn sie wirkliche Autoritäten mit Expertise sind. Aber das war in der Medizin nicht immer der Fall. Es war offensichtlich, dass vieles eher meinungs- als wissenschaftsbasiert ist.“

Kommentieren die zehn „Erklärbär*innen“ der Nation untereinander die Einschätzungen der anderen?

„Wir haben eine Messenger-Gruppe und gehen immer wieder etwas trinken – wie in einer Selbsthilfegruppe. Zu Beginn gab es einen virologischen Tunnelblick bei der öffentlichen Diskussion. Die Perspektiven sind breiter geworden, was ich gut finde. Wir unterscheiden uns in Details bei der Einschätzung von Daten und Zahlen, die wir aber alle akzeptieren. Wir können Fehler eingestehen, und oft genug werden wir falsch zitiert. Schwarz/weiß gibt es nie – den Graubereich kann man unterschiedlich interpretieren.“

Verlieren wir wegen Corona andere Epidemien aus dem Fokus?

„Es gab 2020 und 2021 eine Übersterblichkeit. Das Konstrukt Pandemie brachte neben Covid-Toten viele Kollateralschäden. Das muss untersucht werden.“

Wie steht es hierzulande mit dem Glauben an Evidenzbasierung bei Ärzt*innen, Politiker*innen und Patient*innen?

„Das EBM-Denken ist gut verhaftet in der jüngeren Generation. Ärzt*innen sollten immer wieder reflektieren. Oft ist die psychologische Hürde hoch, etwas wegen neuer Erkenntnisse anders zu machen als die vergangenen zehn Jahre. Patient*innen möchte ich ermutigen, noch mehr nachzufragen. Bei Politiker*innen ist es gemischt. Evidenzbasierung ist meist ein Deckmäntelchen. Unsere Erfahrung aus der Covid-Zeit ist, dass politische Entscheidungen über allem stehen, aber die Entscheidungsgrundlagen nie transparent gemacht werden.“

Steht der nüchterne Wissenschaftler manchmal im Konflikt mit Menschen?

„Wenn wir mit unserer Evidenz etwas zeigen und dann wird es ganz anders gemacht, geht mir das zwar auf die Nerven, aber ich nehme es nicht persönlich. Wir schreiben in Verträge jetzt immer hinein, dass wir die Ergebnisse publizieren dürfen. Und wie in jeder Familie gibt es auch in meiner Impfgegner*innen.“

Als Chance für sein Department sieht Gerald Gartlehner seine öffentliche Präsenz.

Wenn alle Stricke reißen

Beim Bäcker erkannt zu werden, ist immer noch ungewohnt. Er sah es als Chance für das Department medial mitzureden, hat aber schon zurückgeschraubt und freut sich darauf, wieder in „mein langweiliges, unbeobachtetes Wissenschaftlerleben zurückzukehren und Papers zu schreiben“. Die Expert*innen bekommen alle Unmengen an Hassbotschaften täglich und für ihre Corona-Kommentare nichts bezahlt. Hat der Epidemiologe einen gedanklichen Fluchtpunkt? „Ich bin Allgemeinmediziner und fahre regelmäßig Ärztefunkdienst in Wien. Wenn es sehr mühsam wird, sperre ich eine Ordi im Waldviertel auf.“ Mit evidenzbasierter Behandlung – soviel ist sicher.

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Gerald Gartlehner

Seit 2012 Stellvertretender Direktor des Research Triangle Institute International– University of North Carolina Evidence-based Practice Center, USA
Juni 2011 Habilitation im Fach Epidemiologie an der Medizinischen Universität Wien
Seit 2010 Direktor von Cochrane Österreich
Seit 2008 Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation an der Universität für Weiterbildung Krems
2001 – 2002 University of North Carolina at Chapel Hill, School of Public Health
Master of Public Health (Public Health Leadership Program for Health Care and Prevention)
1995 Beijing International Acupuncture Training Center, Peking, China WHO Akupunkturdiplom
1987 – 1994 Medizinstudium an der Universität Wien

Fotos: Donau-Universität Krems/Andrea Reischer, ORF
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