Leonardo da Vinci war ein Mann mit wenig formaler Bildung, dem die Wissenschaftssprache Latein fremd war. Sein Talent zu zeichnen aber wurde zum Glück früh gefördert. Seine Gemälde, seine (Ideen für) Ingenieurleistungen und Bauten sind meisterhaft und bekannt. Weniger Aufmerksamkeit erregten seine anatomischen Studien, obwohl er 30 Jahre seines Lebens damit verbrachte. Sie werden eher nicht in Museen ausgestellt, unterfütterten aber seine realitätsnahen Darstellungen von Menschen. Bildliche Darstellungen nutzte Leonardo da Vinci, dem die wissenschaftliche Literatur der damaligen Zeit verschlossen blieb, um für sich selbst Zusammenhänge besser zu verstehen. Der Großteil der Zeichnungen ist auch ohne begleitenden Text verstehbar. Die Publikation „Leonardo da Vinci and dental anatomy“ beweist, dass Leonardo anatomische Forschung betrieb und der erste hätte sein können, der Material für anatomische Atlanten lieferte.
Anhand der Skizzen aus seinen Notizbüchern erkundete Iris Schüz, Zahnmedizin-Absolventin der Danube Private University in Krems, in seinem 500.Todesjahr, was Leonardo bereits über Zahnanatomie wusste. Schädelskizzen und -schnitte sowie zahlreiche andere anatomische Zeichnungen wurden im 18. Jahrhundert wiederentdeckt und lagern in der Royal Library of Windsor Castle.
Entdecker der Kieferhöhle
Leonardo sah genau hin, und er wusste zu abstrahieren von dem, was er sah. Aus Einzelbefunden, die bestimmte Abweichungen zeigten, ermittelte Leonardo da Vinci etwa die korrekte Zahnformel. Er beschrieb die Morphologie der vier Zahntypen: Schneidezähne, Eckzähne, Prämolaren und Molaren. Aus seinen handschriftlichen Notizen lässt sich erkennen, dass er die Verbindung zwischen Form und Funktion zog. Zudem beschrieb er die Kieferhöhle mit ihrer Verbindung zur Nase und deren Funktion. Von der zeitlichen Abfolge her würde ihm die „Entdeckung“ des Sinus maxillaris zustehen und nicht dem englischen Anatomen Nathaniel Highmore. Schließlich hatte er die Kieferhöhle 150 Jahre früher korrekt dargestellt.
Leonardo da Vinci war das uneheliche Kind eines jungen Notars und einer Magd, der in der Werkstatt des Bildhauers und Restaurators Andrea del Verrocchio in Florenz ausgebildet wurde. Zunächst zeichnete er wohl entsprechend dem Wissen seiner Zeit, das sich aus tausend Jahre alten (antiken) Schriften speiste. Im Lauf der persönlichen Entwicklung zeichnete der Künstler, was er wirklich vorfand. Leichenöffnungen kamen am Übergang von 14. zum 15. Jahrhundert wieder in Mode, wenn auch eher durch Kunstschaffende der Epoche als aus wissenschaftlichem Interesse. Leonardo hat nie selbst publiziert, weshalb wohl nur wenige Menschen seine Forschung studieren konnten. Die Idee, einen Bildatlas zu gestalten, der ihm selbst sehr geholfen hätte, konnte er zu Lebzeiten nicht verwirklichen. In seinem Bestreben Bewegung und Menschen genau darzustellen, war Leonardo sicher extrem. Er gab sich nicht mit der Oberfläche zufrieden. Man muss in den Schädel hineinsägen, um die Kieferhöhle zu sehen. Die wissenschaftliche Literatur gibt an, dass Leonardo jedenfalls 30 Leichen selbst seziert hat. Auf der Suche nach dem damals angenommenen „senso commune“ fertigte er Wachsabgüsse vom Inneren des Schädels an (eine Technik aus der Bildhauerei), mit denen er wiederum die Ventrikel sichtbar machte. Um 1490 verwendete er vermutlich den menschlichen Schädel als Vorbild für seinen Entwurf für die Kuppel des Mailänder Doms, übertrug also die Anatomie auf die Architektur. Einmal gewonnenes Wissen inspirierte bei ihm jede seiner Tätigkeiten. Das machte ihn wohl so brillant. Leonardo da Vinci hat die Anatomie seiner Zeit nicht revolutioniert, aber man sieht seine Einflüsse in der italienischen Renaissance-Malerei und den Schülern seiner Werkstatt.
Astrid Kuffner
Eine Antwort
Großartig, und ansprechend auch für ein junges Publikum!